: Rückkehr an den Rand
Steffen Dobbert hätte überall zu Hause sein können – aber nicht in Mecklenburg-Vorpommern, wo er geboren wurde. Warum er doch wieder dort lebt, darüber hat der Journalist ein Buch geschrieben: „#heimatsuche“ entstand auf einer – nicht zufällig – 80-tägigen Reise
Von Frauke Hamann
Steffen Dobbert kennt Kiews Dnepr-Ufer ebenso wie die griechischen Inseln oder Mozambiques Strände, er kennt Stockholms Innenstadt und Havannas Malecón, Portugal, Asien, und, als politischer Journalist, natürlich auch Berlin und Hamburg.Im Sommer 2019 macht Steffen Dobbert sich wieder mal auf den Weg, mit dem VW-Bus – durch Mecklenburg-Vorpommern. Er reist ohne festen Plan, 80 Tage hat er sich Zeit genommen, und dass da Jules Vernes „Reise um die Erde in 80 Tagen“ anklingt: Das ist beabsichtigt. „Ich könnte zu den sechs, sieben wichtigsten Touristen-Attraktionen fahren – Ostseebäder, Kreidefelsen, Seenplatte“, schreibt Dobbert im Buch, das dabei herauskam. Aber: „Nein! Ich muss auch da hinschauen, wo es schmerzen könnte. Ich bin der Ich-Erzähler auf dieser Reise. Und ich möchte eine Reportage über die Gegenwart dieses Landes schreiben, jenseits von Klischees und Tourismusmarketing.“
In Mecklenburg-Vorpommern, diesem „Land am Rand“, ist Dobbert selbst aufgewachsen: 1982 kam er in Wismar zur Welt – zu spät, um bewusst mitzuerleben, was vor Wende und Mauerfall in der DDR geschah. Und zu früh, um das geeinte Deutschland als Heimatland zu empfinden. „#heimatsuche“ ist nun seine Reportage betitelt, eine Mischung aus Impressionen und Informationen. Oder ist es eher eine Heimaterkundung? Das Buch handelt von den Suchbewegungen eines Mannes, der sich treiben lässt und auch mal überraschen. Er schwimmt in Seen, macht mit bei einer Nacktwanderung, fährt mit Fischern hinaus und diskutiert in Ahrenshoop mit Künstlern. Dobbert beglückt der Anblick von Wasser, Wäldern und Wiesen, in vielen Gesprächen nimmt er aber auch die politischen Stimmungen auf: Im nordöstlichen Bundesland sagen nur 18 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, dass sie zufrieden sind mit der Demokratie. 2016 zog die AfD hier mit 20,8 Prozent als zweitstärkste Fraktion in den Landtag ein.
„Was finde ich subjektiv interessant?“, lautet Dobberts Maxime: Er will genau hinsehen, was vor Ort los ist, will die Veränderungen seit 2002 erfassen: Damals ging er selbst weg aus Mecklenburg-Vorpommern, kurz nach dem Abitur. Warum? Es gibt da eine dunkle Spur. Sie führt in jene Straße in Schwerin, wo Dobbert zuletzt gewohnt hat, mit Kathrin, seiner damaligen Liebe. Diese Kathrin bleibt stets gegenwärtig die 80 Tage über, und in Schwerin nimmt Dobberts Roadtrip seinen Ausgang.
Die Öffnung der Grenze hat er als Kind erlebt, erinnert sich nur undeutlich daran. Umso mehr: „Wenn ich dieses Land begreifen will, muss ich bei den Anfängen beginnen“, schreibt Dobbert. Und einer davon liege „in der Revolution 1989 – ohne die gäbe es das Bundesland heute nicht und ich hätte als Thälmannpionier ein rotes Halstuch bekommen“. Also befragt er Wolfram Grafe, damals Stadtjugendrat der evangelischen Kirche und am 23. Oktober 1989 dabei, als sich rund 40.000 Protestierende versammelten. Einige Demonstranten wollten das Gebäude der SED-Bezirksführung stürmen, vor allem Jüngere schienen bereit, Gewalt anzuwenden. Grafe und andere hielten sie davon ab – am Ende fiel damals kein Schuss.
Dobbert beschäftigt, warum Schwerin deutschlandweit die Stadt mit der größten sozialen Segregation ist: „Nirgends wohnen arme und reiche Menschen weiter getrennt voneinander als hier. Man spürt diese Trennung, wenn man aus der touristenschönen Altstadt auf den Dreesch fährt. Im Stadtinneren das sanierte pittoreske Schloss, das Museum, Theater, Kirchen; in manchen Außenbezirken dagegen ehemalige Kaufhallen, die 30 Jahre nach der Revolution immer noch verfallen, und Wohnblöcke aus Betonplatten, in denen Sozialhilfeempfänger leben.“
In Wismar, wo Rudolph Karstadt 1881 sein erstes Manufactur-, Confections- und Tuchgeschäft eröffnet hat, bricht Dobbert mit dem Reiseführer in der Hand zu einem Rundgang auf. Dass die Altstadt, zusammen mit der von Stralsund zum Weltkulturerbe zählt: 2002 hatte er davon nichts mitbekommen – das war kurz nach Kathrins Tod. Jetzt geht er über einen der größten Marktplätze Deutschlands und trifft auf Saman Hassani, der fast jeden Tag, nach seinem eigenen Deutschunterricht, Touristen durch St. Nikolai führt: „Ich bin in Wismar geboren. Er in Kurdistan“, schreibt Dobbert. „Aber nun zeigt er mir Wismar.“
„Was ist Heimat?“, will Dobbert immer wieder von seinen Gesprächspartnern wissen. Heimat sei da, antwortet etwa der Country-Sänger Jan Tessin, wo man jemanden als Vollidioten bezeichnen kann und am nächsten Tag mit ihm ein Bier trinken. So ergibt das Buch auch ein Mosaik an Heimat-Gefühlen. Dobbert spürt, wie der Abstand der vergangenen Jahre eine neue Nähe schafft. „Heimat ist kein verbranntes Wort“, wird er am Ende begriffen haben.
Er erlebt aber auch Ernüchterndes: Diskutiert etwa mit einem AfD-Politiker, der darauf beharrt, dass unser politisches System ein diktatorisches sei. „Unsere Debatte verlief wie bei zwei Magneten mit gleichnamigen Polen: Je näher man sie aufeinander zubewegt, desto mehr stoßen sie sich ab.“ Dass die AfD heute mit dem Spruch „Vollende die Wende“ wirbt, sieht Dobbert als Beleidigung all derer, die 1989 Mut bewiesen haben.
Er sammelt Informationen über den inzwischen zurückgetretenen Innenminister Lorenz Caffier und dessen illegal erbautes Ferienhaus auf Usedom, besucht politische Veranstaltungen mit Kanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, auch eine Lesung von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck, er interviewt Philipp Amthor, noch vor dessen Entzauberung als Lobbyist. Sind das Einübungen in Toleranz? Der 2019 als Bürgermeister auf dem Darß wiedergewählte Gerd Schamberg schließt nicht aus, zukünftig für die AfD zu stimmen. Ganz anders verläuft die Begegnung mit Silvio Witt, Oberbürgermeister in Neubrandenburg: Der Satiriker, schwul, hatte sich 2006 spontan als Parteiloser zur Kandidatur entschlossen. Und in Kieve, einem Dorf fast auf der Grenze zu Brandenburg, stimmten 2016 36 Prozent für die Grünen.
Mit dem Song „100 Tage Sommer“ der Hinterlandgang im Ohr, sagt Dobbert rückblickend: „Die entspannten, leeren Tage waren am besten.“ Am Anfang seiner Tour sei er besorgt gewesen über seine Planlosigkeit, habe Angst gehabt vor manchen Erinnerungen. Inzwischen nennt er „das Sich-einfach-treiben-lassen“ als größten Gewinn der Reise: „Ich habe Menschen getroffen, denen ich sonst nie begegnet wäre, habe Orte betreten, die in keinem Reiseführer stehen, und bin in Seen geschwommen, die nicht einmal Googlekannte.“
Wir sprechen auch über die Wunde, die ihn bis heute schmerzt – Kathrins Freitod. „Durch sie lernte ich damals eine Liebe kennen, die mich nie mehr verließ. Ein Teil von ihr wird immer ein Teil meiner Heimat sein.“ Auch deshalb fragt er sich schließlich: „Vor dieser Reise habe ich mich vor allem als Erdenbürger gefühlt, der überall zuhause sein kann, aber nicht unbedingt in diesem kleinen MV. Es hat mich mehr in seinen Bann gezogen, als ich vermutet hätte: Wie wäre es, wenn ich wirklich heimkehren würde?“
Inzwischen lebt Dobbert, mit Freundin und Tochter, statt in Berlin im Dorf Groß Eichsen bei Schwerin. Für die Landtagswahl am 26. September kandidiert er auf Platz 16 der Grünen-Landesliste – mit der Konsequenz, nicht mehr als politischer Journalist zu arbeiten, sondern als Sportreporter. Der Fischer, mit dem er auf Dorschfang ging, hatte also Recht: „Jeder Tag is’ ’ne Wundertüte“.
Steffen Dobbert, „#heimatsuche. In 80 Tagen durch Mecklenburg-Vorpommern“. Hinstorff Verlag, 2020, 272 S., 20 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen