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Tiñas „Positive Mental Health Music“Sprechen, ohne sich zu schämen

Es ist befreiend, als Mann in Pink aufzutreten. Mit ihrem neuen Album versucht die Londoner Band Tiña, in einer entfremdeten Welt Halt zu finden.

Männer in Pink. Die Londoner Band Tiña kommt aus dem Umfeld des Clubs The Windmill Foto: Tom Delion

Als Josh Loftin eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Nichts verwandelt. „Es hat klick gemacht. Ich bin zusammengebrochen, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet“, erzählt Loftin der taz. Loftin ist Sänger der Londoner Band Tiña, die vor Kurzem ihr Debütalbum „Positive Mental Health Music“ veröffentlicht hat.

Der Titel ist nicht bierernst gemeint, doch das Album war für den 33-Jährigen der Weg, aus einer schweren Krise zu finden. „Empfindungen wie Scham und Stolz spielen in so einem Zustand keine große Rolle mehr. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht mehr viel zu verlieren gibt. Das führt auch dazu, dass man den ganzen überflüssigen Scheiß außer Acht lässt. Man ist nur auf der Suche nach etwas, das irgendwie wahr ist, denn nur das lässt einen wieder etwas fühlen.“

Wenn man die Musik von Tiña hört, wird einem schnell klar, wie das funktioniert hat: Ein lauter, tiefer Bass, der in den Bauch zielt. Schrammelige E-Gitarren, die Wut und Freude rauslassen, ein Schlagzeug, das die Äxte vorantreibt, und natürlich der Gesang. Mal im Bariton, mal im Falsett resümiert Loftin („I have been brought up in completely the wrong way / I’m supposed to be open but I’m closed up most of the day“). Es ist weniger Bekenntnis als Anklage, wenn er singt: „Seems like a joke / How everyone hurts / But no-one says a thing, out in the world.“ Hoffnungen lässt er ebenfalls gelten.

Dazu kommt ein Synthesizer, der die herzerweichenden Tonartwechsel unterstützt – das ist Indie-Rock in all seiner Kraft und Schönheit. „Wenn ich gemeinsam mit der Band aus dem Leiden Musik schaffe, wird daraus etwas Wunderbares, etwas Eigenwilliges, es ist nicht mehr nur die Wiederholung des Leidens“, so erfährt es auch Loftin.

Das Album

Tiña: „Positive Mental Health Music“ (Speedy Wunderground/Pias).

Entscheidend für das Entstehen dieser Musik ist die Gemeinschaft, in der Band, aber auch darüber hinaus. In den Videoclips zu Songs wie „Dip“ oder „People“ lässt sich gut sehen, wie die Band mit Freund*innen beim gemeinsamen Abhängen, Skaten und Musikmachen Spaß hat – und die Kraft findet, der kapitalistisch getriebenen Welt den Mittelfinger zu zeigen. Im Video zu „Golden Rope“, einem Song, der von Selbstmordgedanken handelt, tanzt die Band in pinkfarbenen Togas am Strand. So albern das aussieht, so gut zeigt es auch, worum es in dieser Band geht: Nicht cool sein zu wollen, sich nicht zu schämen, sich mit- und aneinander zu freuen.

Überhaupt Pink – Loftins Markenzeichen ist ein pinkfarbener Papp-Cowboyhut mit Löchern, auch auf der Bühne tritt er ganz in Pink auf: „Es hat etwas Befreiendes, wenn wir als Männer mit Dingen spielen, die als weiblich gelesen werden. Sei es ein Outfit in Pink, sei es, sich in der Kommunikation zu öffnen und verletzlich zu machen.“ Über seine Rolle als Mann zu reflektieren war für Loftin auch Teil seiner Krisenbewältigung. In einem Interview mit dem britischen Online-Musikmagazin NME hat er seinen Zustand als „being lonely and horny“ beschrieben – eine Gefühlsmischung, die wohl viele Männer in dieser Gesellschaft nur zu gut kennen, aber selten benennen.

„Für mich ist es eine Herausforderung, über solche Dinge öffentlich zu sprechen, ohne mich zu schämen“, erzählt Loftin, darauf angesprochen. „Und ich möchte natürlich auch, dass andere Männer so etwas lesen und sich weniger für ihren Seelenzustand schämen. Wir leben in einer Welt, die voll ist mit sexuellen Anspielungen. Und irgendwie gehen wir davon aus, dass alle andere Menschen guten, vertrauten Sex haben.“

Ihre Heimat haben Tiña in der Szene um den Club The Windmill in Brixton im Süden Londons, aus der in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Projekte wie Goat Girl, King Krule, Shame und Fat White Family aufgetaucht sind. Viele von ihnen haben mit dem 51-jährigen Produzenten Dan Carey gearbeitet, auf dessen Label Speedy Wunderground auch das Debüt von Tiña veröffentlicht wurde. „Dan ist wie ein Kind, er hat kaum vorgefertigte Vorstellungen davon, was er gut findet. Wenn er Musik veröffentlicht, sind das immer Sachen, an die er glaubt. Sein Geschäftssinn spielt eine untergeordnete Rolle, ihm geht es mehr um die Begeisterung.“

Noch wichtiger war aber die Sozialisation im The Windmill, erzählt Loftin: „Es herrscht dort große Offenheit. Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, aber auch Musikgenres spielen keine große Rolle. Und auch wenn dieser Club viele Gitarrenbands hervorgebracht hat, muss man da nicht mit Gitarre, Bass und Schlagzeug auf der Bühne stehen. Viele junge Musiker*innen finden hier ihre Ersatzfamilie. Es gibt Hilfe zur Selbsthilfe, und mit ihr lässt sich wiederum Selbstvertrauen aufbauen. Es ist ein Ort, an dem man sich angstfrei ausprobieren kann.“

Natürlich ist die Geschichte von Krise und Ausweg eine, die sich gut verkaufen lässt, und so wird dieses Album auch vermarktet. Aber Loftin hat ja nicht zur Gitarre gegriffen und alles war gleich wieder gut – und das ist es auch heute noch nicht. „Positive Mental Health Music“ ist ein Versuch, in einer entfremdeten Welt Halt zu finden. Ein Soundtrack, der hilft, sich über Wasser zu halten in einer Gesellschaft, in der der Druck und der Neid immer größer werden. Und die Angst: „Je älter ich werde“, sagt Loftin, „desto mehr erschreckt es mich, dass das, wonach wir uns alle sehnen, in dieser Welt kaum Platz hat: eine Art innerer Frieden, der daher kommt, dass wir von jemandem gesehen und geliebt werden.“

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