„Was bedeutet es, einen Diskurs darüber zu führen, wer am Ende den Schwarzen Peter bekommt?“

Der Kieler Umweltethiker Konrad Ott ist an Projekten beteiligt, die vor Ort erkunden, unter welchen Bedingungen die Bevölkerung ein Endlager bei sich akzeptieren könnte. Wichtig ist dabei die Idee einer Kompensation

Die farbigen Flächen kommen für ein Endlager infrage: tertiäres (lila) und prätertiäres Tongestein (pink), Steinsalz in steiler (hellgrün) und in geschichteter Lagerung (hellblau) und kristallines Wirtsgestein (rosa) Foto: Karte: Bundesgesellschaft für Endlagerung

Interview Ilka Kreutzträger

taz: Herr Ott, darf ich mich gegen ein Endlager für Atommüll vor meiner Haustür wehren?

Konrad Ott: Im Prinzip darf ich das natürlich tun, wenn ich der Meinung bin, dass das Verfahren nicht fair und der Standort nicht geeignet ist. Wenn ich der Meinung bin, ich werde einem unzumutbaren Risiko ausgesetzt und soll Lasten für andere übernehmen. Man muss seine Gründe dann diskursiv artikulieren, um zu zeigen, dass man nicht nur sagt: Not in my backyard.

Das heißt, es reicht nicht zu sagen, ich war immer gegen Atomkraft und jetzt finde ich es nicht gerecht, wenn die Entsorgungsfrage mich trifft?

Das Problem ist: Wir hätten diese Stoffe nie erzeugen dürfen. Ich bin selber ein alter Atomkraftgegner und ich habe mich als junger Mensch auch vor dem einen oder anderen Bauzaun blicken lassen.

Aber jetzt sind die Stoffe eben da.

Die Stoffe sind erzeugt worden, ohne dass wir jemals ein Endlager hatten. Man hat immer gesagt, die Aussicht auf Gorleben reicht für die Betriebsgenehmigung. Jetzt hat man gesehen, dass Gorleben ungeeignet gewesen ist und die unerwünschten Güter sind dennoch da. Und die Personen, die verantwortlich waren, sind tot oder steinalt, man kann sie nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Deswegen ist die Aussage „Ich war immer Atomkraftgegner“ nicht genug für eine Ablehnung des neuen Suchverfahrens.

Ich muss also meine persönlichen Interessen dem Großen und Ganzen unterordnen?

Na ja, man kann auch argumentieren, dass durch den Atomausstiegsbeschluss ein neues Framing entstanden ist. In früheren Zeiten konnten Atomkraftgegner sagen: Ich bin gegen diesen gesamten industriellen Komplex aus Atomkraftwerk, Zwischenlager, Wiederaufbereitungsanlagen, Castortransporten und Endlagersuche. Ich richte mich gewissermaßen direkt gegen die Atomindustrie als Ganze.

Das geht ja jetzt nicht mehr.

Genau, denn wir haben in einem langen politischen Prozess beschlossen, dass die Atomkraft in Deutschland keinerlei Zukunft mehr haben soll. Wir bauen absehbar kein neues Atomkraftwerk mehr, wir schalten die letzten Meiler in ein paar Jahren ab und dann ist das Atomzeitalter im Grunde vorbei. Es ist nur die Altlast angefallen und wir haben zu einem rationalen Umgang damit keine ernsthafte Alternative.

„Nur die Altlast“ ist gut.

Es ist eine sehr konfliktträchtige Situation. Niemand kann sagen, wir lassen das jetzt mal die nächsten hundert Jahre in den Zwischenlagern liegen. Denn jedes vernünftig geplante und gebaute Endlager ist gegenüber dem Status quo eine Verbesserung. Wir muten ja momentan den Anwohnerinnen und Anwohnern von Zwischenlagern eine Oberflächenlagerung von hoch radioaktiven Stoffen zu.

Das tun wir schon lange.

Das tun wir schon lange, ja, und da regt sich momentan auch kaum einer drüber auf – auch an den Zwischenlagern nicht.

Warum eigentlich nicht? Weil eine Art Gewöhnungseffekt eingetreten ist?

Ja, natürlich, es ist ja bisher nichts passiert. Kein Flugzeugabsturz, kein Erdbeben, keine Terroristen. Aber jeder weiß, dass die Zwischenlagerung sicherheitstechnisch nicht optimal ist. Ich habe mal ein Bürgerforum zu dieser Frage organisiert und da waren sich die Bürgerinnen und Bürger sehr schnell einig, dass auf die lange Bank schieben keine Lösung ist.

Das war 2015 in Kiel beim Entria-Projekt, bei dem 25 zufällig ausgeloste Teilnehmende über die Frage „Wohin mit unserem Atommüll?“ diskutiert und Ideen entwickelt haben.

Die Teilnehmer haben gesagt, man soll sehr schnell anfangen, mögliche Tiefenlager zu erkunden. Dann muss man ja noch bauen, einlagern und entscheiden, ob man das Lager verschließt – und selbst bei einer zügigen Abfolge würde uns das noch bis ans Ende des Jahrhunderts beschäftigen.

Aber es gibt keine Alternative.

So ist es. Wir haben uns selbst verpflichtet, eine territoriale Lösung zu finden, das steht im Standortauswahlgesetz. Und das finde ich auch moralisch richtig und gerecht. Denn zu sagen, wir verkaufen es und machen irgendwo im hintersten Sibirien ein Endlager oder gemeinsam eins mit den Chinesen in der Wüste Gobi, würde bedeuten, dass wir uns mit viel Geld aus der Verantwortung ziehen. Es ist aber durch den Fall Gorleben, aber auch durch Asse und Schacht Konrad, sehr viel Vertrauen erschüttert worden. Wir werden dieses Vertrauensniveau, das beispielsweise in skandinavischen Ländern herrscht, erst wiederherstellen müssen.

Kann das überhaupt gelingen?

Wir hatten bei Entria, das war das erste Forschungsprojekt zur Endlagersuche von 2013 bis 2017, eine Begleitgruppe. Da waren Personen dabei, die lange Zeit in Gorleben aktiv gewesen sind, die eine Widerstandsbiografie hatten. Wir haben uns sehr schnell darauf verständigt, dass wir einen neuen Suchlauf versuchen müssen, um Vertrauen in die Wissenschaft und in die Institutionen wieder aufzubauen. Und am Ende der fünf Jahre, die das Projekt lief, hat mir eine Person aus dem Umkreis von Lüchow-Dannenberg gesagt, dass sie allmählich wieder Vertrauen schöpft. Aber das trifft nicht für alle zu. Es gibt zum Beispiel auch die Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt“, die sagen: Misstrauen gegenüber dem ganzen Prozess. Es wird bereits behauptet, der Auftakt der Partizipation sei misslungen.

Dann kann man kaum zu einem Ergebnis kommen, das als gerecht empfunden wird.

Das stimmt. Deswegen versuchen wir mit Transens, das ist das Nachfolgeprojekt von Entria, an dem bundesweit etwa 60 bis 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten, tatsächlich in die Regionen hineinzukommen, die vielleicht in die engere Auswahl gezogen werden, und mit den Menschen vor Ort zu reden.

Welche Fragen werden Sie, wenn Corona es wieder zulässt, mit den Leuten diskutieren?

Was ist eine angemessene Kompensation? Was ist eine sachliche Argumentation? Was sind gute und was weniger gute Gründe gegen einen Standort? Also: Was bedeutet es, einen Diskurs darüber zu führen, wer am Ende den Schwarzen Peter bekommt. Kann man dahin kommen, dass Menschen sagen, gegen eine angemessene Kompensation wären wir bereit, Standortgemeinde zu werden?

Was ist denn angemessen?

Es gab bisher immer die Kompensationsmodelle nach dem klassisch bundesdeutschen Wohlstandideal und das bedeutete: Strukturentwicklung. Also einen Autobahnzubringer, ein neues Feuerwehrauto, ein Hallenbad, solche Dinge eben.

Foto: Bündnis 90/Die Grünen/Wikimedia

Konrad Ott

61, studierte Philosophie bei Jürgen Habermas und ist Professor für Philosophie und Umweltethik an der Uni Kiel. Er war bei der Gründung der Grünen dabei und ist Mitglied im Deutschen Komitee für Nachhaltigkeitsforschung von „Future Earth“.

Klingt sehr nach 80er.

Genau, damit kommen wir nicht weiter. Wir haben schon so viele Autobahnen und für viele Leute sind Autobahnen auch gar nicht mehr erstrebenswert, die haben was gegen Autos und Verkehr. Deswegen muss man neue Kompensationsmodelle erarbeiten, die man den Leuten nicht überstülpt, sondern mit ihnen gemeinsam entwickelt.

Was wären das für Modelle? Jeder bekommt 10.000 Euro in die Hand gedrückt? Oder 100.000? Oder eine Million?

Dann ist da noch die Frage, wer kriegt das Geld? Alle, die im Landkreis wohnen? Alle, die im Umkreis von zehn Kilometern wohnen? Und dann kriegt der bei 9,8 Kilometern 100.000 Euro und der bei 10,2 Kilometern kriegt 0? Wenn die Kompensation überhaupt gerecht sein soll, müssten Sie eine solche Entschädigung wahrscheinlich räumlich und zeitlich staffeln. Wenn es nur über Geld abgewickelt wird, müsste man ein sehr komplexes System entwickeln.

Sie haben ja auch das bedingungslose Grundeinkommen als Kompensation vorgeschlagen.

Ja. Oder man sagt, wir machen eine ökologische Musterregion daraus, beispielsweise, oder eine Region multikulturelles Leben. Wir haben verschiedene idealtypische Kompensationsmodelle entworfen, die müssen wir intern noch diskutieren, aber die können wir dann den Leuten in den Standortgemeinden vorstellen und die können damit spielen und selber sagen, was für sie ein angemessenes Kompensationsmodell wäre. Das Problem ist: Kompensation spaltet Protest. Denn einige werden immer sagen, wir lassen uns nicht kaufen.

Ihre Vorschläge einer ökologischen oder multikulturellen Musterregion setzen voraus, dass sich die Gesellschaft darauf verständigt, welches Leben erwünscht ist. Ist das nicht etwas überfrachtet?

Ich kann mir vorstellen, dass viele von diesen Kompensationsmodellen in den potenziellen Endlagerstandorten umstritten sein werden. Denn die dahinterstehenden Fragen sind ja nicht leicht zu beantworten: Was wollen wir? Wer sind wir? Wie wollen wir leben? Ich werde darum auch bestimmt kein ideales Kompensationsmodell aus dem Hut zaubern können. Das Einzige, was ich tun kann, ist den Leuten gewissermaßen eine Art Eröffnung für einen möglichen Diskurs untereinander anzubieten.

Wie geht es jetzt weiter?

Also, wir wollten in unserem Forschungsprojekt eigentlich im November einen ersten Auftakt-Workshop machen. Das ging natürlich nicht. Im Grunde liegt das Projekt jetzt brach. Das ist jetzt noch kein Drama. Wenn es im Sommer eine Post-Coronasituation geben sollte, holen wir das wieder raus. Ein zweites Jahr wäre blöd, aber davon gehen wir jetzt nicht aus. In diesem einen Jahr haben wir ein paar theoretische Hausaufgaben gemacht, und wir können im Sommer 2021 loslegen.