„Pieces of a Woman“ auf Netflix: Die Heldin bewegt sich vorwärts
Im Spielfilm „Pieces of a Woman“ von Kornél Mundruczó spielt Vanessa Kirby mit unorthodoxer Energie eine trauernde Frau.
Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó ist ein Meister abgefahrener Überhöhungen und seltsamer Metaphern. Mit seinen wuchtigen, von Pathos getragenen Bildern vermag er zu irritieren. Dennoch sucht er nicht die Überwältigung, seine Geschichten sind tief verankert in der Wirklichkeit.
Im Jahr 2014 zum Beispiel rüttelte er das Publikum von Cannes mit einer wahrhaft knurrenden Rachefantasie auf: „Underdog“ ist eine Parabel auf die Politik eines Landes, die sich über die Ausgrenzung von Minderheiten definiert. Ein ausgesetzter Labradormischling wird zum Anführer weiterer geschundener Hundekreaturen.
Als zähnefletschende Meute ziehen die Tiere zu Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie durch Budapest. Bis zu 280 Hunde aller Größen und Rassen choreografierte Mundruczó auf gespenstisch leeren Straßen und nebelverhangenen Brücken.
Ein nicht weniger abgehobener Kommentar auf ungarische Verhältnisse ist der Fantasyfilm „Jupiter’s Moon“ (2017). Erzählt wird die Geschichte eines syrischen Flüchtlings, der von einem ungarischen Polizisten angeschossen wird. Er überlebt und entwickelt übermenschliche Kräfte. Gleich einem Engel wird er durch die Lüfte schweben, die Sehnsucht der Menschen nach Wundern wecken und in unwirtlichen Flüchtlingslagern seinen Vater suchen.
„Pieces of a Woman“. Regie: Kornél Mundruczó. Mit Vanessa Kirby, Shia LaBeouf u. a. Kanada/Ungarn 2020, 126 Min. Läuft auf Netflix
Die Hausgeburt
Überraschend erdenschwer ist hingegen der Anfang von Mundruczós neuem Film „Pieces of a Woman“: Eine Geburt und damit ein Ereignis, das keiner erzählerischen Überformung bedarf. Gerade erst haben wir die hochschwangere Martha und ihren Lebensgefährten Sean kennengelernt, die in einer gemütlichen Wohnung in einem ruhigen Bostoner Stadtviertel leben. Schon sehen wir sie während der Hausgeburt ihres ersten Kindes.
Mundruczó komprimiert den Vorgang auf zwanzig Minuten, gedreht in einer einzigen Einstellung. Die Schmerzen der jungen Frau fängt er in aller Unmittelbarkeit ein, zeigt, wie sich der einzelne Augenblick für die Gebärende ins Unendliche dehnt. Es ist ein physisches Wechselbad der Gefühle. Martha schreit, brüllt. Ihr wird übel, sie rülpst.
Dann hellen sich ihre Gesichtszüge in freudiger Erwartung wieder auf. Die Hebamme und Sean lassen ihr zur Entspannung ein heißes Bad einlaufen. Nach der Geburt kommt es zu Komplikationen, der Krankenwagen muss gerufen werden. Erst jetzt erscheint der Titel „Pieces of a Woman“.
Tatsächlich muss sich hier eine Frau neu zusammensetzen. Martha muss verarbeiten, dass sie ihre kleine Tochter nur für einen Augenblick lebendig in den Armen halten konnte. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Film ein mit dem Tod des Babys konfrontiertes Ehepaar zeigt. Die Abkapselung in der jeweiligen Verzweiflung. Zwei Menschen, die sich im Schmerz aus den Augen verlieren. Doch die Schwere des Verlusts schreibt sich nicht in die Bilder ein.
Zurück in den Alltag, das Leben
Der Film begleitet eine junge Frau, die versucht, sich dem Schmerz zu stellen, ihren ureigenen Weg durch das Trauma zu finden. Wir sehen ihre zunächst verhaltenen und dann immer entschlossener werdenden Schritte zurück in einen Alltag, in ein Leben. Es sind diese Vorwärtsbewegungen seiner Heldin, die „Pieces of a Woman“ eine überraschende und auch schöne Kraft verleihen.
Es ist Kornél Mundruzcós erste englischsprachige Produktion, geschrieben hat der 46-jährige Kino- und Theaterregisseur das auf eigenen Erfahrungen beruhende Drehbuch gemeinsam mit seiner Partnerin Katá Wéber. Zuvor hatten die beiden das Thema bereits für die Bühne aufgearbeitet.
In lose für sich stehenden Akten folgt der Film Marthas Trauerarbeit. Zu Beginn jedes Abschnitts wird stets eine winterliche Flusslandschaft mit dem jeweiligen Datum eingeblendet, im Vordergrund eine im Bau befindliche Brücke. Hier hat Sean vor der Geburt des gemeinsamen Kindes gearbeitet. Sein Traum, der Tochter die fertige Brücke zu zeigen, ist nicht in Erfüllung gegangen.
Shia LaBeouf spielt Sean laut, polternd, ungelenk. Wie schon während der Geburtsszene verharrt er auch später in der Position des Reagierenden. Passiv-aggressiv setzt er Martha unter Druck, ihre Gefühle offenzulegen und mit ihm zu teilen. Ohnehin ist seine Figur wegen ihrer proletarischen Herkunft eher ein Fremdkörper in Marthas Familie. Der Mann mit dem Hipsterbart und dem Hang zu albernen Witzen fühlt sich gedemütigt, als seine Schwiegermutter dem Paar vor der Geburt einen Familienvan schenkt.
Als beste Darstellerin ausgezeichnet
Die Britin Vanessa Kirby, die im vergangenen September auf den Filmfestspielen in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, entwickelt für ihre Rolle als trauernde Frau eine unorthodoxe Energie. Unbewusst scheint ihre Figur zu ahnen, dass es für die Trauerarbeit keine vorgefertigten Konzepte gibt. Martha verweigert alle Anteilnahme, zieht sich erst einmal in sich zurück.
Deshalb mag sie für ihre Umgebung verschlossen wirken, doch der Film und das anteilnehmende Drehbuch sind auf ihrer Seite. Nach und nach versteht man, weshalb sich die junge Frau in ihrem Schmerz nicht gemeint und übersehen fühlt. Etwa wenn die Mutter ohne Absprache einen Grabstein bestellt oder wenn Martha im Supermarkt zwischen Frischobst und Tiefkühlregalen von einer Frau, die sich als gute Bekannte der Familie ausgibt, übergriffigen Beleidsbekundungen ausgesetzt wird.
Ungläubig und fassungslos wirkt in diesen Szenen das Gesicht von Vanessa Kirby. Man meint den Stich, der durch ihren Körper geht, förmlich zu sehen, für einen Moment kommt der dahinter und tiefer liegende Schmerz zum Vorschein. Die durchlässige Präsenz von Kirbys Spiel ist auch ein Gegenpol zur dramatisch aufspielenden Musik. Marthas Entschlossenheit legt sich über die allzu eingängigen Töne, sie gibt den Takt des Films vor.
Diese Heldin soll nicht auch noch durch die filmische Form bedrängt werden. Wohl deshalb verzichtet Mundruzcó auf extreme Nahaufnahmen. Bevorzugt arbeitet er mit der Halbtotalen, dabei ist seine Kamera ständig in fließender Bewegung. Es entsteht eine Art ästhetischer Schutzraum, in dem sich Martha ihrer Trauer nach und nach bewusst werden kann.
Dominante Frau mit versteinertem Gesicht
Wenn sie in der U-Bahn sitzt und auf einen Vater blickt, der seinen kleinen Jungen liebevoll umsorgt, oder wenn sie auf einem Spielplatz Eltern mit ihren Kindern toben sieht, wirkt Martha nicht verzweifelt. Vielmehr scheint sie sich am Glück der anderen zu erfreuen. Einmal streift sie ziellos durch die Stadt, bummelt durch eine Shoppingmall und probiert Lippenstifte aus. Vielleicht ist ihr der Anblick ihres Spiegelbildes noch fremd.
Fremd ist Martha auch die eigene Mutter Elisabeth. Gespielt wird die dominante Frau mit dem versteinerten Gesicht von der großartigen New-Hollywood-Darstellerin Ellen Burstyn („Die letzte Vorstellung“ von Peter Bogdanovich; „Alice lebt hier nicht mehr“ von Martin Scorsese). Die Dominanz ihrer Figur ist bildfüllend, sie lässt sich durch das Trauma ihrer jüdischen Familie erklären.
Elisabeth will die Kontrolle. Sie möchte, dass Sean aus dem Leben ihrer Tochter verschwindet. Sie verlangt eine Wiedergutmachung für den Tod der Enkelin, strebt einen Prozess gegen die Hebamme an. In Elisabeths Organisationswut, die letztlich nichts Mütterliches hat, kann sich Martha nicht wiederfinden. Auch in diesem Familienkonflikt widersetzt sich die junge Frau allen Erwartungen. Bis zum Schluss wird Martha mit ihrer Art der Trauerarbeit für überraschende Wendungen sorgen und dabei wieder zu sich finden. Nicht nur sie, auch wir sehen alles mit neuen Augen.
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