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Demos vor Silvester in BerlinNach vorne denken

„Querdenken“ verzichtet auf eine Großdemo zum Jahreswechsel, mit kleinen Aktionen ist aber zu rechnen. Linke setzen eigene Akzente.

Tschüss Querdenken, hallo eigene Inhalte Foto: dpa

Berlin taz | Die Stimmung ist schlecht in den Telegram-Kanälen der Corona­­leug­ner*in­­­nen: Nicht nur, dass die gefürchteten Impfungen begonnen haben; auch scheint der eigene Höhenflug vorerst vorbei. In einer an Heiligabend veröffentlichten Videobotschaft rief der Guru der Szene und Querdenkenprotest-Unternehmer Michael Ballweg seine Schäfchen auf, „das Verbot der Demonstrationen in Berlin zu akzeptieren“ und zum Jahreswechsel nicht in die Stadt zu kommen. Zuvor hatte die Versammlungsbehörde nach der ursprünglich geplanten Silvesterdemo auch eine Ersatzveranstaltung am 30. Dezember – mit Verweis auf das Infektionsschutzgesetz – verboten.

Ballwegs Ankündigung ging sogar darüber hinaus: Er werde bis „auf weiteres keine Großdemonstrationen mehr anmelden“, so der Stuttgarter, und er rief die Ortsgruppen auf, es ihm gleichzutun. Viele bisheriger Anhänger*innen reagieren verschnupft, bezeichnen Ballweg als „systemtreu“ oder mutmaßen, dass dieser sich aufgrund von Berichten über seine intransparente, womöglich sich selbst einen finanziellen Vorteil verschaffende Spendenpraxis gänzlich zurückziehen wolle. So mancher User hält trotzig daran fest, trotzdem nach Berlin fahren zu wollen.

Zu einer Großveranstaltung mit Tausenden Teilnehmer*innen wird es dabei kaum kommen. Dagegen ist mit kleineren Aufläufen zu rechnen. Die von Ballweg eingesetzte Organisatorin von Querdenken Berlin, Monica Felgendreher, hat nach eigenen Angaben am Abend des 30. Dezember eine „Pilgerwanderung“ zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule angemeldet, also eine als religiöse Veranstaltung getarnte Demonstration.

Zuletzt mobilisierte Felgendreher Samstag für Samstag etwa zwei Dutzend Menschen zu Kundgebungen auf dem Alexanderplatz. Rund um den Jahreswechsel rufen auch Maskenverweigerer, die unter dem Namen Freedom Parade seit Monaten durch die Stadt ziehen, zu „Spaziergängen“ auf. Sie werden womöglich Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Supermärkten belästigen.

Mit Aktionen der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand (KDS), die im März mit Demos am Rosa-Luxemburg-Platz begonnen hatte und es am vorletzten Wochenende noch einmal am selben Ort versucht hatte, ist hingegen nicht mehr zu rechnen. Nachdem sich Gründer Anselm Lenz zum wiederholten Male theatralisch festnehmen ließ, erklärte die Gruppe in gewohnt schwulstigem Weltuntergangston („gezielte staatsterroristische An- und Übergriffe“) künftig nicht mehr als „Anmelder oder direkter Anreger“ von Protesten aufzutreten. Stattdessen wirbt man nun in Ballweg’scher Manier um Geld – für eine Verlagsgründung.

Eigenständige linke Proteste

Auf der Gegenseite sind Antifaschist*innen bemüht, das Dickicht der Verschwörer*innen weiter aufzuklären und selbst Akzente zu setzen. An den Feiertagen veröffentlichte die Pankower Gruppe North East Antifa eine umfangreiche Analyse der „rechten Formierung durch die Hintertür“. Darin wird nachgezeichnet, wie die scheinbaren Kämpfer*innen für die Grundrechte von KDS und Querdenken den Pakt mit der extremen Rechten eingingen, und werden alle wesentlichen Akteur*innen, Medien und Verschwörungserzählungen der Szene vorgestellt.

Während eine für Silvester geplante große linke Bündnisdemonstration, die als Kontrapunkt zu Querdenken die Frage der gerechten Verteilung der Krisenkosten auf die Tagesordnung setzen wollte, auf das Frühjahr verschoben wurde, mobilisieren nun insbesondere Antifa-Gruppen am 30. Dezember zu einer eigenen Demo. Unter dem Motto „FCK2020 – Für ein besseres Morgen“ wollen sie ab 14 Uhr vom Nettelbeckplatz im Weddng bis zum Rosa-Luxemburg-Platz ziehen.

Sprecherin Paula Webrajetski kritisiert die Einseitigkeit der Coronamaßnahmen, die „persönliche Begegnungen und Kultur einschränken“, während Menschen weiter in Fabriken arbeiten müssten. Sie fordert: „Kein social Lockdown, bevor nicht die Wirtschaft und der Konsum runtergefahren wurden und eine weltweit gerechte Bekämpfung der Pandemie die Menschen vor Kapitalinteressen stellt.“

Darüber hinaus halten auch das Berliner Bündnis gegen Rechts und Reclaim Rosa-Luxemburg-Platz am Tag vor Silvester ab 14.30 Uhr an ihrem Protest gegen die rechten Verschwörungsideolog*innen vor der Volksbühne fest.

Update 28.12., 14 Uhr: Inzwischen gibt es eine weitere Anmeldung aus dem verschwörungsideologischen Spektrum: eine Demonstration für 10.000 Menschen vom Hauptbahnhof bis ans Nordufer im Wedding in die Nähe des Robert Koch-Institutes.

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4 Kommentare

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  • Ihr unterschlagt hier, dass die Querschläger für die Zeit zwischen den Jahren für einen "DDay 2.0" mobilisieren und sich dazu in privaten lokalen Gruppen organisieren. Sechs Stunden vor Beginn von Infrastruktur-Blockaden (oder was ihnen sonst noch einfallen mag) soll von einem zentralen Steuerungsaccount das Startsignal gegeben werden.

    Rechts versucht also weiterhin, Chaos zu erzeugen, nur Ballweg nimmt sich öffentlich aus der Schusslinie und will offiziell nichts damit zu tun haben.

  • Die linken, insbesondere die klassenbewussten Initiativen, begrüße ich sehr, solange sie sich nicht instrumentalisieren lassen von den bürgerlichen Parteien.



    Die Coronakrise legt auch die Krise unserer Demokratie frei wie eine offene Wunde.



    Der Neoliberalismus ist nach dem Faschismus die schlimmste Form kapitalistischer Herrschaft.

    • @Rolf B.:

      Anschließe mich!

      Allen Genoss*Innen gutes Gelingen, passt auf euch auf, Maske, Abstand, lasst euch nicht dumm von der Seite anmachen, und so weiter. Ihr kennt das ja.

      Angesichts der Tatsache, dass sich sogar in den USA jetzt das Abgeordnetenhaus für 2000 Dollar bedingungslose Corona-Stütze für alle ausgesprochen hat, tun soziale Proteste mehr als not! Die Sozialpolitik der GroKo ist so reaktionär, dass sie mittlerweile weltweit ihresgleichen sucht!

      • @Ajuga:

        Leider kommen die Genoss*Innen in den bürgerlichen Medien kaum noch zu Wort und sind auf Alternativen angewiesen, die wiederum von den Etablierten denunziert werden.



        Die Krise unserer Demokratie ist die Kehrseite der Krise des Kapitalismus, der weder für die Klimakrise noch gegen sozialen Verwerfungen Lösungen anbietet.