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Europa, Populismus und die PandemieWas uns die Krise lehrt

Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. Ein leidenschaftliches Plädoyer zur Verteidigung der humanistischen Werte Europas.

Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen vor dem Parlament am 18.11. in Berlin Foto: Christoph Soeder/dpa

W ährend der Corona-Ausgangssperre schwebte mein Vater zwischen Leben und Tod im Krankenhaus in Paris. Ich erlebte Straßensperren, abgeschirmte Krankenhäuser, die grausame Einsamkeit des Patienten in den Händen des überlasteten Personals. Ich lernte die Angst der Angehörigen kennen, die Ärzte darum anflehten, ihre Liebsten besuchen zu dürfen, und Polizisten um die Erlaubnis anbettelten, die menschenleere Stadt zu durchqueren.

Ich spürte dieses Gefühl der Schwere: der Menschlichkeit anderer ausgeliefert zu sein.

Das hat mich die Krise gelehrt. Jeder von uns hängt irgendwann in seinem Leben von der Fähigkeit anderer ab, menschlich zu sein. Das Blatt kann sich schnell wenden. Diejenigen, die heute gegen die Verordnungen zum Schutz vor der Ausbreitung von Corona demonstrieren, können morgen die ersten sein, die um Solidarität betteln.

Sie scheinen mir der Ausdruck eines triumphierenden Individualismus. Einer Vorstellung, dass jede/r das Recht hat, seinen kleinen Komfort, seine Wünsche und Meinungen grenzenlos zu verteidigen. Soziale Netzwerke haben dieser Entwicklung die Mittel zum Erfolg gegeben. Ein Phänomen, das auf den ersten Blick der Demokratie zu dienen scheint, sie in Wirklichkeit mit seinen wahnwitzigen Auswüchsen aber bedroht.

M. Bothor
Géraldine Schwarz

geb. 1974 in Straßburg, deutsch-­französische Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Veröffentlichte zuletzt „Die Gedächtnislosen“ (Secession Verlag, 2018). Ihr Essay „Was uns die Krise lehrt“ entstand für die „Europaküche“ des Goethe-Instituts anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Infos unter: www.goethe.de/europakueche

Wunsch und Kollektivität

Denn wenn jede/r unbedingt erwartet, dass ein jeder Wunsch von der Politik umgesetzt werde, ist keine gemeinsame Entscheidung mehr möglich. Ein kollektives Projekt kann aus der kompromisslosen Gegenüberstellung einer Vielzahl unterschiedlicher und mitunter antagonistischer Empfindungen nicht entstehen.

Die Demokratie hängt von der Fähigkeit ihrer Bürger:innen ab, die Spielregeln zu verstehen. Sie zu respektieren. Den Dialog, den Konsens, die Kompromisse. Und das bedeutet, zu akzeptieren, dass der eigene Wille nicht immer absolut befriedigt werden kann.

Die Demokratie ist vielmehr in Gefahr, wenn das Prinzip der Repräsentation verleumdet, Bundestagsabgeordnete beleidigt und das Parlament angegriffen werden. Sie ist in Gefahr, wenn die Legitimität von Ex­per­t:in­nen und Wis­sen­schaft­le­r:in­nen rundweg abgelehnt sowie empirisch feststellbare Fakten diskreditiert werden. Wenn man die eigene Meinung immer schon für Wissen hält.

Die Vergangenheit lehrt uns, dass eine gewisse Verwirrung zu einer wahnwitzigen Darstellung der Welt führen und durchaus mörderische Aktionen zur Folge haben kann. In der „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1944 eine solche Entwicklung. Wo man sich weigert, die Meinung mit der von anderen zu konfrontieren, sie zu überprüfen, wird sie zu einer simplen Überzeugung, zu einer einfachen Erklärung von Welt, die kein eigenes Nachdenken erfordert.

Vernunft und Absolutheit

Man flüchtet in die sture Ablehnung von Argumenten, von faktischen Beweisen, die der eigenen Überzeugung widersprechen. Einer Überzeugung, die oft aus einer Mischung von Gerüchten, Verschwörungstheorien und Gefühlslagen besteht. Sie mündet in Paranoia, in der jeder Widerspruch als persönlicher Angriff empfunden wird. Ein kleiner Schritt nur noch bis zur wahnsinnigen Tat.

Pandemien sind nur eine der vielen Herausforderungen, die im 21. Jahrhundert auf uns warten. Um sie zu meistern, werden humanistische Werte, wie sie in der europäischen Verfassungen verankert sind, von maßgeblicher Bedeutung sein. Wir müssen uns denen widersetzen, die versuchen, diese als schwach, naiv oder trügerisch zu diskreditieren. Die gemeinsamen humanistischen Werte sind die Voraussetzung für unser Überleben.

Das 20. Jahrhundert hat uns gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, wenn er seine Menschlichkeit verliert. Er zerstört sich selbst. Heute sind wir erneut mit Weltanschauungen konfrontiert, die im Menschen ein Mittel und nicht den Zweck sehen. Die ihn zum Instrument eines Staatsapparats, einer Ideologie, einer Wirtschaftsordnung oder technologischer Experimente machen.

Lügen werden von autoritären Regimen systematisch verbreitet, um die Bevölkerungen besser instrumentalisieren zu können. Wo die Freiheit eingeschränkt ist und repressive Mächte herrschen, fügen Menschen sich bereitwilliger, um als Rädchen im Räderwerk zu dienen.

Autoritäre Regime

Aber auch in den Demokratien Europas besteht die Gefahr, dass man die Lehren der Geschichte aus den Augen verliert. Nicht selten begegne ich Menschen, auch in meinem Bekanntenkreis, die den wirtschaftlichen Erfolg Chinas oder die einer Weltmacht wie Wladimir Putins Russland offen bewundern. Über die Faszination für das Gesetz des Profits oder die virile Selbstinszenierung von Macht verblassen sogar Menschenrechtsverbrechen, wie Pekings Völkermord an den Uiguren.

Manche wählen nicht unbedingt populistische Parteien. Sie betrachten sich selber als tolerant und demokratisch. Doch sie bedienen sich der populistischen Rhetorik. Ressentiment und Frust werden zum „Widerstand“ gegen die „politische Korrektheit“ umgedeutet. Je oberflächlicher die Kenntnisse sind, desto provokativer fallen die diffamierenden Slogans aus.

Man glaubt, es führe zu keiner Konsequenz, eine solche Haltung zu verbreiten und sich leichtfertig auf den Relativismus der moralischen Werte zu berufen. Man glaubt, Worte töten nicht. Und so vergisst man nach und nach der Mensch zu sein, der man einmal war. Und schaufelt fleißig mit am Grab für Freiheit und Demokratie, im Namen eines entmenschlichten Systems.

Gewiss lebt die Demokratie von Streit, Debatte und Meinungsvielfalt. Eine offene Gesellschaft muss ihre Grenzen immer wieder neu bearbeiten. Gerade das verschafft ihr Legitimation. Bedenken gegen die Gesundheitspolitik der Behörden, die Schwachstellen der Demokratie, sie sollten ohne moralische Zensur artikuliert werden. Aber nur eine Meinung zu haben, die sich aus sich selbst heraus begründet, ist eine gefährliche Verkürzung.

Fundamentale Missverständnisse

Es wäre ein fundamentales Missverständnis, Gewalt mit Stärke zu verwechseln, Skrupellosigkeit mit Mut, Geld mit Erfolg, Quantität mit Qualität, Meinungen mit Fakten.

Solche Verwechslungen zeigen, wie sehr Worte ihrer Bedeutung beraubt werden können. Wenn Sprache in dieser Weise kontaminiert wird, kann es keinen argumentativen Austausch mehr, keine echte Auseinandersetzung, kein Wissen und keine Wahrheit, die wir miteinander teilen, mehr geben. Ein Volk, das in diesem Sinne nicht mehr urteilsfähig ist, kann unendlich manipuliert werden, stellte Hannah Arendt einst fest.

Es liegt an jedem von uns in Deutschland und Europa, der Orientierungslosigkeit zu widerstehen, die eine Minderheit versucht wirkmächtig zu befördern. Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. Unsere Wertegemeinschaft braucht dagegen eine klare Orientierung. Europa muss den Worten Demokratie, Gerechtigkeit, Mut und der Freiheit selbst ihre Bedeutung zurückgeben, indem es diese humanistischen Werte unmissverständlich lebt und sie den Bürger:innen über Bildung vermittelt.

Die geistige Entfaltung des Menschen muss in Europa als Maßstab des Fortschritts gelten, und nicht nur Wirtschaftsleistungen oder technologische Erfindungen. Sonst droht „die Faszination für große Zahlen“, unsere Fähigkeit zu untergraben, das zu schätzen, was sich schlecht in Zahlen messen lässt: die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Moral, die Freiheit, das Schöpferische – der Mensch selbst und die Unschärfe der conditio humana.

Die irrationale Dimension

Der Mensch ist nicht reduzierbar auf Statistiken, Algorithmen, Daten. Er ist sowohl rational als auch irrational. Wenn die irrationale Dimension des Menschen geleugnet wird, dann nutzen Demagogen diese Leerstelle für ihre politischen Zwecke, um an die niedrigsten Instinkte des Menschen zu appellieren und ihre Anfälligkeit für Mythen und Verschwörungstheorien zu befriedigen.

Humanistische Werte sind kein moralisches Accessoire, das uns ein hübsches Aussehen verleiht. Sie helfen uns Herausforderungen zu bewältigen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten und die Gefahren zu erkennen. Sie helfen uns, bewusster zu leben.

Je konsequenter Europa diesem Weg folgt, desto stärker wird sein normativer Einfluss sein. Desto glaubwürdiger sein Bestreben, dem Anspruch des Menschen zu dienen, seine Angst, seine Vorurteile und seine Urinstinkte zu überwinden – sein Leid in Freiheit zu verwandeln und sich zur schöpferischen Vernunft zu erheben.

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4 Kommentare

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  • Die Autorin plädiert für eine europäisch-humanistische "Leitkultur", denn nur wer positive Werte teilt, kann auch die Zukunft human gestalten. Eine sympathische Position! Doch auf welche Werte sollen wir uns inhaltlich stützen? Sind die "richtigen" Werte evident? Oder müssen, können sie begründet werden? Gibt es eindeutige Kriterien für "human"? Wenn ich z. B. "offene Grenzen für alle" ablehne, bin ich dann "inhuman"? Ich fürchte, die Autorin entkommt dem Zirkelschluss nicht, den sie selbst sehr treffend formuliert: "Aber nur eine Meinung zu haben, die sich aus sich selbst heraus begründet, ist eine gefährliche Verkürzung". Das gilt m. E. leider nicht nur für die Rechten, die Populisten, die Verschwörungstheoretiker usw., sondern auch für den links-liberalen Mainstream.

    • @Running Man:

      Humanismus und Humanität sind nicht gleichzusetzen.

      Grenzen zwischen Menschen abzulehnen, entspräche durchaus einem humanistischen Ansatz, Sie sind jedoch m.E. kein Unmensch bzw. inhuman, wenn Sie diesem Ansatz nicht folgen möchten. Kommt auf die Begründung an...

  • Ein gelungenes Plädoyer für‘s Menschsein.

  • Alles richtig. Blendet aber den Demokratieabbau durch den ausbeuterischen Überwachungskapitalismus und dem Versagen der repräsentativen Demokratie aus. Da sehe ich die ursächlichen Probleme. Das beschriebene sind die Symptome.