: Im Sog eines sinkenden Schiffes
Vom drohenden Untergang der rot-grünen Regierung sind viele der 4.200 Angestellten des Bundestags existenziell betroffen. Aber längst nicht alle müssen nun fürchten, dass ihre Karriere im windigen Rettungsboot namens Hartz IV endet
VON ASTRID GEISLER
Genau 26 Minuten braucht die S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße nach Marzahn, wo Brigitte Strömer mit ihrer Familie lebt. Das Ticket kostet 2 Euro, einfache Fahrt. Bis zur letzten Bundestagswahl ist Brigitte Strömer (Name geändert) die Strecke fast täglich gefahren. Seither spart sie das Geld lieber. Was sollte sie auch im Regierungsviertel? Zeit totschlagen? Das geht zu Hause billiger. Außerdem hat sie dort einen Internet-Anschluss und kann suchen, was sich nur schwer finden lässt: Arbeit.
Wenn Bundestagsmitarbeiter von SPD und Grünen dieser Tage schlecht schlafen, weil sie nicht wissen, wo sie unterkommen sollen nach der Neuwahl – dann dürften in ihren Köpfen Bilder einer Karriere herumspuken wie der von Brigitte Strömer.
Seit knapp drei Jahren sitzt die Juristin zu Hause. Ihre Plattenbauwohnung wirkt so perfekt aufgeräumt, als hätte hier jemand das Wischen und Dekorieren zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Die Gastgeberin wippt nervös im Schaukelstuhl. Sie führe jetzt ein Leben auf „Windelniveau“, so wie in den Monaten nach der Geburt ihrer Söhne, sagt Brigitte Strömer. Sie lacht ratlos: „Braten, backen, bohnern, das ist für mich einfach nicht die Erfüllung.“
Fast 35 Jahre hat sie gearbeitet, erst in der DDR-Zollverwaltung, zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag. Im Herbst 2002, als die PDS-Fraktion aus dem Parlament flog, verlor die Juristin – wie rund 200 Fraktionskollegen – ihren Job. Vier Jahre hatte sie für eine PDS-Abgeordnete das Büro organisiert, war Mädchen für alles, genoss den Stress, den Respekt der Kollegen, stieg abends oft nicht vor acht Uhr in die S-Bahn zurück nach Marzahn. Dann war es vorbei. 51 war sie damals und zunächst noch „voller Optimismus“. Inzwischen hat sie aufgehört, die Bewerbungen zu zählen. Seit Januar bekommt sie ALG II. Ihre größte Sorge ist, dass demnächst auch noch ihre Altersvorsorge draufgeht, dass sie die Lebensversicherung kündigen muss. „Hartz IV“, sagt Brigitte Strömer, „das ist wirklich eine herrliche Einrichtung: Man hat sein Leben lang gearbeitet, bekommt keine Stelle mehr – egal wie oft man sich bewirbt, aber dafür weniger Geld.“
Auch viele der heutigen Mitarbeiter des Bundestages haben Verträge, die an die Legislaturperiode gebunden sind – also im Herbst vorerst enden dürften. Für längst nicht alle der 4.200 Angestellten würde das dramatische Folgen haben. Referenten der Union etwa haben beste Chancen, nach der Wahl auf ihren alten Posten weiterzumachen oder sogar aufzusteigen. Anders ist die Perspektive jener, die für Rot-Grün arbeiten. Wie vielen von ihnen die berufliche Warteschleife droht? Nicht mal die zuständige Arbeitsagentur in Berlin-Mitte wagt eine grobe Schätzung.
Die Behörde hat sich aber bereits auf die Tage nach der präsidialen Massenkündigung vorbereitet: Betroffene Parlamentsmitarbeiter bekommen ein Erste-Hilfe-Paket, wie es auch Angestellten nach der Pleite eines Großunternehmens geboten wird. Für sieben Tage schlägt die Agentur eine Außenstelle mit sechs Beratern im Parlament auf. Während dieser Frist müssen sich nach den Regeln von Hartz IV all jene bei der Behörde melden, die jetzt schon wissen, dass ihr Vertrag im Herbst nicht verlängert werden wird.
An einem dieser Beratungstische wird auch Sandy Wygand sitzen. Die Sprecherin der SPD-Mitarbeitervertretung weiß das seit Wochen – seit ihre Arbeitgeberin, die thüringische Bundestagsabgeordnete Christine Lehder, beschloss: Sie tritt nicht mehr an. Einen Tag Selbstmitleid habe sie sich damals gegönnt, sagt die 32-jährige Soziologin. Inzwischen hat sie umgeschaltet. Auf professionelle Zuversicht. Vermutlich auch, weil sie das zu ihrer Aufgabe als Mitarbeitervertreterin zählt, genau wie die Verwaltung der fraktionsinternen Jobbörse.
„Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir viele Kollegen wieder in Lohn und Brot bringen“, sagt Wygand. Die meisten seien schließlich „hochflexibel, kreativ, sehr einsatzbereit und sehr belastbar“.
Wie sieht es wirklich aus für Bundestagsmitarbeiter von SPD und Grünen, deren Stellen es nach der Wahl nicht mehr geben wird? Zumindest besser als für die vor drei Jahren gekündigten Referenten der PDS-Fraktion, sagt André Nowak. Nowak hat sieben Jahre für die PDS im Bundestag gearbeitet und engagiert sich heute in einem Verein ehemaliger Fraktionsmitarbeiter. Andere Parteien, meint er, hätten viel größere Auffangnetze als die PDS. Und in den Personalabteilungen von Unternehmen und Branchenverbänden gebe es gegen Kollegen von SPD und Grünen weit weniger Vorbehalte als gegen Leute aus seiner Partei.
Mancher Bundestagsmitarbeiter der SPD hält sich inzwischen für quasi universell brauchbar. Man muss nur den Notizblock zur Seite legen und Vertraulichkeit zusichern, denn kann man sich dieser Tage in Abgeordnetenvorzimmern kühne Karriereideen anhören. Da sieht zum Beispiel ein Nachwuchszuarbeiter der SPD einen beruflichen Fluchtweg, den man selbst Meistern der politischen Flexibilität wie dem Nochbundeskanzler niemals zutrauen würde: den Wechsel auf die Flure der Union. So mancher junge Mitarbeiter ist inzwischen heilfroh, sich nie das SPD-Parteibuch geholt zu haben. Die Arbeit in einem Parlamentsbüro bestehe doch ohnehin zum großen Teil aus „technischen“ Aufgaben, argumentiert einer von ihnen: Wieso sollte man deshalb neben einem Job in der Wirtschaft nicht auch einen auf der politischen Gegenseite anpeilen?
„Utopisch“, findet das SPD-Mitarbeitervertreterin Sandy Wygand. Einen Personalaustausch zwischen SPD- und CDU-Büros habe es nie gegeben. Und persönlich sei sie ohnehin „Überzeugungstäterin“.
Auch das Gros der Kollegen hält offensichtlich nichts von derlei Politakrobatik. Sonst wäre die Stimmung anders gewesen bei zwei Informationsveranstaltungen, zu denen die Arbeitsagentur in den vergangenen Tagen im Bundestag geladen hatte. Wo zuvor der Visa-Untersuchungsausschuss den Zeugen Schily befragt hatte, kamen nun die Jobvermittler ins Kreuzverhör. Die Presse durfte an den Beratungsstunden nicht teilnehmen – aus Sorge um die Privatsphäre der Betroffenen.
„Die meisten haben sehr skeptisch auf die Erklärungen der Arbeitsamtsvertreter reagiert“, berichtet Meike Bergmann, Mitarbeiterin eines SPD-Abgeordneten, die sich nur mit geändertem Namen zitieren lassen möchte.
Eine Kollegin habe die Berater offen angegangen: Sei es nicht ein allgemeiner Erfahrungswert, dass die Behörde kaum jemandem wieder zu einem Job verhelfen könne? „Vielen Dank für das Vertrauen“, habe der Vertreter der Arbeitsagentur zurückgebolzt. „Das“, sagt Bergmann, „war symbolisch für die Atmosphäre.“
Mitarbeitervertreterin Sandy Wygand wäre es vermutlich lieber, das Lamento würde ungehört in den Parlamentsfluchten verhallen. Hundertprozentige berufliche Sicherheit gebe es doch auch draußen vor den Bundestagstoren längst nicht mehr, sagt sie. Außerdem habe allen klar sein müssen: „Dieser Job steht und fällt mit dem Abgeordneten. Da kann ich doch jetzt nicht plötzlich drüber jammern.“
Der ehemalige PDS-Referent André Nowak weiß, wie sich das Leben im beruflichen Abseits anfühlt. Er war nach dem Ende seiner Bundestagslaufbahn monatelang arbeitslos. Trotzdem hält er die bevorstehenden Serienkündigungen im Parlament für vergleichsweise undramatisch: Anders als bei Firmenpleiten gehe schließlich unterm Strich kein einziger Job verloren. Die Arbeitsplätze würden nur umverteilt.
Und das kann man auch wundervoll finden. Brigitte Strömer zum Beispiel wirkt erstaunt, wenn sie als Langzeitarbeitslose über ihr Mitleid für jene Mitarbeiter von Rot-Grün reden soll, die demnächst auf dem Arbeitsamt Schlange stehen. Wieso Mitleid? Die Kollegen kämen jetzt einfach „in den Genuss“, mal persönlich auszuprobieren, „was sie da Tolles erarbeitet haben“, sagt sie: „Ich empfinde da schon eine gewisse Genugtuung.“
Und das ist gehörig untertrieben. Für Brigitte Strömer könnten die Wahlen die letzte Chance sein, noch einmal dem Hartz-IV-Dasein zu entkommen. Je mehr Abgeordnete ihre Büros räumen müssen für das Linksbündnis von Gysi, Lafontaine & Co, desto größer ihre Chancen. „Des einen Freud, des anderen Leid“, sagt die 54-Jährige.
Sie redet nicht unbedacht, sie will nicht boshaft klingen. Aber sollte sie sich etwa wünschen, dass kein Platz mehr frei wird für sie?
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