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Statistik zu Gewalt in Beziehungen„Der Feind im eigenen Bett“

Häusliche Gewalt steigt laut Zahlen des BKA. Corona habe dies „sehr wahrscheinlich“ noch verschärft, so Frauenministerin Franziska Giffey.

Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD) mit einem Schild ihrer Initiative „Stärker als Gewalt“ Foto: Michele Tantussi

Berlin taz | „Die Zahlen steigen, und sie schockieren“, sagte Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD): Mehr als 142.000 Fälle von häuslicher Gewalt gab es hierzulande im Jahr 2019. Mehr als 80 Prozent der Opfer waren Frauen. Und mehr als die Hälfte der Betroffenen lebte mit dem Täter unter einem Dach. „Das ist der Feind im eigenen Bett“, sagte Giffey bei der Vorstellung der Sonderauswertung Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamts am Dienstag in Berlin.

Ähnlich viele Frauen wie im Jahr zuvor starben durch Gewalt in Partnerschaften oder Ex-Partnerschaften: 117 Mal kam 2019 eine Frau durch Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge um – fast jeden dritten Tag im Jahr. Noch gebe es keine Zahlen zu den Fällen während der Coronapandemie ab März dieses Jahres, sagte Giffey. Es sei aber „sehr wahrscheinlich“, dass diese die Lage weiter verschärft habe.

Das zeigen auch erste Auswertungen des bundesweiten Hilfetelefons gegen Gewalt gegen Frauen, das 24 Stunden am Tag erreichbar ist. Corona sei das bestimmende Thema für ihre Arbeit 2020, sagte Leiterin Petra Söchting. Seit April seien die Beratungskontakte im Bereich häuslicher Gewalt um 20 Prozent gestiegen: „Wir haben mittlerweile alle 20 Minuten eine Anfrage zum Thema Gewalt in Partnerschaften und ehemaligen Partnerschaften.“

Das BKA erhebt die gesonderten Zahlen im Bereich Partnerschaftsgewalt erst seit 2015. Dabei geht es um psychische Straftaten wie Bedrohung, Stalking oder Nötigung, aber auch um körperliche Delikte wie Vergewaltigung, Körperverletzung, Mord und Totschlag. Die Statistik, sagte BKA-Präsident Holger Münch, bilde allerdings nur das Hellfeld ab – also das, was bei der Polizei zur Anzeige kommt. „Das Dunkelfeld ist in diesem Bereich erheblich“, sagt Münch.

„Schweigen schützt die Täter.“

Der Weg zur Polizei werde aus vielen Gründen nicht gesucht: „Aus Angst vor möglichen Konsequenzen, aus Scham oder finanzieller Abhängigkeit.“ Münch warb dafür, dennoch Kontakt zur Polizei zu suchen: „Schweigen schützt die Täter.“ Es sei besser, einmal mehr einen Hinweis zu geben als einmal zu wenig. Gerade in der Coronakrise müsse dabei auch das Umfeld Verantwortung übernehmen, also zum Beispiel der Freundeskreis oder Nach­ba­r:in­nen.

Giffey und Münch kündigten an, ab 2021 die erste repräsentative Dunkelfeldstudie zu starten, in der Frauen und Männer zu Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen befragt werden. „Wir müssen das Dunkelfeld weiter aufhellen“, sagte Münch. Zudem solle die Studie Menschen anregen, über ihre Erfahrungen zu sprechen und das Tabu zu brechen, sagte Giffey – nur so könnten sie sich auch Hilfe holen. Bislang holten sich bis zu 80 Prozent der Betroffenen keine.

Giffey bekräftigte außerdem ihr Vorhaben, im Frühjahr über Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung über einen Rechtsanspruch auf einen Platz im Frauenhaus zu sprechen. 350 Frauenhäuser gibt es hierzulande – zu wenig, sagte Giffey: „Es gibt weiße Flecken in Deutschland“, an denen Frauen nicht ausreichend Hilfe bekommen. Sie setze auf einen Ausbau der Häuser und Beratungsstellen.

Katharina Göpner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe forderte eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention, des Übereinkommens des Europarats zur Gewalt gegen Frauen. Die gebe vor, dass es ein strukturelles und koordiniertes Vorgehen gegen häusliche Gewalt brauche und entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssten. Das gelte auch und gerade in der Coronapandemie, damit etwa die Beratungsstellen weiter erreichbar seien.

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9 Kommentare

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  • Alte Probleme, alte Hilflosigkeit, alte Undifferenziertheit. Die Dunkelziffer liegt irgendwo jenseits von 95 Prozent, auch wenn sie wahrscheinlich zurückgeht. Im Umkehrschluss gibt es aber nicht unbedingt eine Zunahme der häuslichen Gewalt, sondern nur eine Zunahme der Meldungen. In der Pandemie wiederum mag es eine Zunahme geben, das dürfte auch eine Zunahme der Meldungen geben, nur sind diese Fälle eher diese in denen es zuvor keine Gewalt gab und in denen die Frauen weniger Probleme haben sich Hilfe zu suchen. Die Fälle von chronischer häuslicher Gewalt hingegen sind viel schwerer zu erreichen, Corona macht da keinen Unterschied und Politik ann d allenflls mithelfen das allgemeine Klima zu ändern. Wirklich angegangen werden solche Fälle eher in Psychotherapien. Grundsätzlich ist häusliche Gewalt einfach etwas das Politik schwer zugänglich ist, wenn hingegen Nachbarn immer bei jedem Verdacht azch häusliche Gewalt die Polizei rufen würden und den Ärger und die Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen würden, dann wäre viel gewonnen.

  • Wenn es in Quarantänezeiten zu mehr Gewalt in den Familien kommt - liegt es dann an der Quarantäne, oder am Druck, der auf den Familien lastet?

    Sind Frauenhäuser nicht die immer selbe Reaktion des Staates am Ende der Kette, weil schlicht keine Ressourcen da sind, um Familienkonflikte schon beim Enstehen zu eliminieren?

    Da ja seit Jahren nichts, weder am Anfang noch am Ende getan wird und die Gewalt immer weiter steigt, warum ist es dann nicht möglich, auch Schulen/Pisa, Mietpreise, Lohndumping, Paygap, Fristverträge, Privatisierung und archaische Familienverhältnisse, sprich Religion auch mit in die Lösungsfindung mit einzubeziehen?

    Stattdessen erscheint mit jeder Kriminalstatistik eine Familienministerin auf der Schlagzeile und versucht, mit ihrem vermeintlichen Gutmenschentum parteipolitischen Profit aus der Misere zu schlagen. Isoliert und für sich betrachtet lassen sich derlei monströse Entwicklungen aber nicht lösen.

    • @Alvin Kettel:

      Schulen/Pisa, Mietpreise, Lohndumping, Paygap, Fristverträge, Privatisierung und archaische Familienverhältnisse, keiner dieser Punkte rechtfertigt in irgendeiner Art und Weise, einen anderen Menschen anzugreifen. Geschweige denn, den Menschen, dem man eigentlich am Nächsten sein sollte, der eigene Partner.

      • @Sven Günther:

        Die Ebene darunter hat zwei, wenn nicht drei bis vier Informationsmodelle, beispielsweise in einer archaischen, deutschen Familie:

        Sie: Die Kinder kommen in die Pubertät, Küchengeräte gehen kaputt, irgendein Internet-Anwalt schickt Rechnungen. Er: Liest Zeitung, erkennt die politische Sprengkraft und durchschaut die Mechanismen. Er muss sich ein neues Konzept überlegen, weil er seinen Job losgeworden ist. Im Amazonlager will er nicht arbeiten. Sie versteht das nicht. Kind 1 wird gemobbt und redet nicht darüber. Kind 2 kommt zu spät nach Hause und ist besoffen.

        Haben Sie eigentlich irgendeine Idee, was in Familien vor sich geht, geschweige denn irgend eine Bundesfamilien-Utopistin?

        Stellen Sie sich nun die Lage für Restaurantbesitzer vor, oder für Schauspielerinnen, die zuhause proben müssen, während die Rechnungen den Briefkasten fluten. Stellen Sie sich noch die Ebene darunter vor und die darunter, die mit den Träumen und der Selbstverwirklichung, den Enttäuschungen und den Krankheiten, die daraus entstehen.

        Angegriffen werden die, die einem die Träume nehmen, Wohnungsbauunternehmen, Schuladministrationen, Börsenunternehmen, etc. In Extremsituationen stellt sich die Einstellung der "Nächsten" oft als enttäuschend heraus. Die Gewalt gegen Kinder wird in der Statistik viel zuwenig repräsentiert.

        • @Alvin Kettel:

          Die Mehrheit meiner Mitbürger ist eine menschliche Enttäuschung für mich, gebe ich gerne zu.

          Aber Sie versuchen hier den ganz großen Rundumschlag.

          "Angegriffen werden die, die einem die Träume nehmen, Wohnungsbauunternehmen, Schuladministrationen, Börsenunternehmen."

          Nein werden sie in der Regel nicht. Extremsituationen sind für mich zum Beispiel Zeiten bei der BW gewesen, als andere Menschen auf mich geschossen haben. Und auch wenn man schweißgebadet wegen Alpträumen aufwacht, den Job verliert, dicker Debitsaldo, geplatzter Traum oder sonstwas, das gibt einem kein Argument, um gewalttätig gegenüber seinem Partner oder seinen Kindern zu werden.

          • @Sven Günther:

            Auch nicht, wenn sie zusätzlich von der "Geliebten" dafür verantwortlich gemacht werden, weil sie den Überblick, die Kontrolle, was auch immer verloren hat. Da haben Sie recht. Man kann den Leuten, also auch Jugendlichen, die das alles gewaltfrei überstehen, nur die größte Anerkennung aussprechen.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    der agressive mann ist als produkt dieser leistungsgesellschaft verursacher vieler probleme.



    in der familie werden solche verhaltensweisen zwangsläufig immer verheerungen anrichten, bevor sie von außen sichtbar werden - und sei es, durch die flüchtende frau.



    die wurzel des übels wäre mittels einer verbindlichen, menschenfreundlichen ethik sicherer getilgt.



    dazu müsste natürlich der permanente appell an den egoismus und narzismus des einzelnen durch das wirtschaftssystem beendet werden.

  • "und entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssten."

    Ganz genau und die heißt Geld und da musste auch nicht erst die Istanbul-Konvention kommen. Der Europarat gibt als Richtwert 1 Platz pro 7.500 Einwohner an (COE Task Force to Combat Violence against Women, including domestic violence 21.06.2006).



    Da das in jedem Bundesland unterschiedlich gehandhabt wird, unterscheiden sich die Zahlen erheblich, aber deutschlandweit ist das Verhältnis 1:12.500.

    www.bmfsfj.de/blob...a092a/zif-data.pdf

    Nebenbei könnten wir mit diesem föderalen Schwachsinn aufhören, das jedes Bundesland und teilweise jeder Landkreis/Kommune das so handhabt, wie er lustig ist bei den Tagessatzfinanzierungen und der Anzahl der Plätze.

    Wenn das föderal nicht klappt, muss der Bund Mindeststandards festlegen, die nicht unterschritten werden dürfen.

  • Es ist wichtig, die Probleme zu beleuchten, die die Autorin beschreibt. Um der Vollständigkeit des Bildes wegen sollte die Problemgruppe, die gegenwärtig ebenfalls verstärktem Leidensdruck ausgesetzt sein dürfte, nicht vernachlässigt werden: Von Ehefrauen mißhandelte Männer. Dabei handelt es sich immerhin um 20% der Opfer häuslicher Gewalt (wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte.)

    “Nach einer Auswertung des Bundeskriminalamts sind knapp 20 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt Männer.”

    “Dass solche Schutzeinrichtungen, mitunter auch ‘Männerhäuser’ genannt, notwendig sind, davon war Leiterin Zöttlein von vornherein überzeugt. Immerhin sind 18 von 100 Opfern von Gewalt Männer. Wobei Wissenschaftler nicht ausschließen, dass die Zahl noch deutlich höher ist, weil viele Männer Hemmungen haben, von ihren Leiden zu berichten. ‘Das Thema Gewalt ist sehr schambesetzt’, sagt Zöttlein, ‘gerade bei Männern’. Das Rollenbild sei da oft noch ein anderes, nicht umsonst werde ja immer noch vom angeblich ‘starken Geschlecht’ gesprochen. Umso schwieriger sei es für Männer, Hilfe zusuchen.”

    “Aus welchem Milieu die Männer kommen, die Hilfe suchen? Derzeit sind es vor allem Betroffene ‘aus der Mittelschicht’, sagt Zöttlein. Als das Haus im Januar öffnete, hatten viele noch mit Unverständnis reagiert. ‘Männer können sich doch wehren’, bekam Zöttlein unter anderem zu hören. Was sie weglächelte: ‘Es gibt offenbar wirklich Menschen, die der Überzeugung sind, dass keine Frau einem Mann jemals Gewalt antut.’ Je länger die Einrichtung existiert, desto seltener dürften solche Vorurteile werden, hoffen dieMitarbeiter.”

    www.sueddeutsche.d...-caritas-1.4907588