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Brit Bennett „Die verschwindende Hälfte“Die Seiten wechseln

Die Autorin Bennett aktualisiert die Tradition einer fluiden Idendität. Ihr neuer Roman ist eine Geschichte über Verlust, Trauer und Scham.

Zuschrei­bungen, Spiegelungen, Zerrissen­heiten – Themen von Brit Bennetts neuem Roman Foto: Foto: Christopher Olsson/contrasto/laif

Als Eric Garner 2014 Opfer tödlicher Polizeigewalt wurde, veröffentlichte Brit Bennett den Essay „I don’t know what to do with good white people“, in dem sie die Attitüde sich als antirassistisch verstehender Weißer kritisierte, allein für diese vertretene Haltung Dank und Anerkennung Schwarzer Menschen und von PoC zu erwarten. Also auch von ihr. Es war eine politische Stellungnahme, die viel Beachtung fand.

Dass ihr aktueller zweiter Roman „Die verschwindende Hälfte“ in den USA etwa eine Woche nach einem weiteren Mord durch Polizisten, dem an George Floyd, erscheinen und als das Buch der Black-Lives-Matter-Bewegung verhandelt werden würde, konnte die US-amerikanische Schriftstellerin nicht ahnen.

Bereits in ihrem Debüt „Die Mütter“, das im Original 2016 erschien, verschränkte sie die individuellen Lebensläufe ihrer Schwarzen Prot­ago­nis­t*in­nen mit den gesellschaftlich tief verankerten Strukturen des Rassismus in den USA. Das Buch war ein großer Erfolg, der die damals 26-Jährige von heute auf morgen bekannt machte. Auch ihr neuer Roman wurde in den USA ein Bestseller und wird als Serie auf HBO verfilmt werden. Die Kritiker*innen sehen Bennett nun gar in die Fußstapfen einer Toni Morrison und eines James Baldwin treten.

Schwarze, die hellhäutig werden wollen

Bennett erzählt die Geschichte der Zwillinge Desiree und Stella, die Ende der 1950er Jahre als Teenager aus dem kleinen Mallard abhauen, einem Ort, dessen Bewohner*innen zwar laut Gesetz Schwarze sind, aber viel Wert auf Hellhäutigkeit legen: Die Kinder sollen immer „noch lichter“ werden, wie „eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.“ Solche Gemeinden hat es tatsächlich gegeben, Bennett erfuhr davon durch ihre Mutter.

Das Buch

Brit Bennett: „Die verschwindende Hälfte“. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje. Rowohlt, Hamburg 2020, 416 Seiten, 22 Euro

Die Schwestern rebellieren auf je eigene Weise gegen die geltenden Regeln: Desiree heiratet „den dunkelsten Mann, den sie finden konnte“. Stella aber entscheidet sich für ein Leben als Weiße, sie wechselt die Seiten. Passing heißt das im Englischen und zahlreiche Erzählungen der nordamerikanischen Literatur, insbesondere aus dem 1920er Jahren, behandeln dieses Thema; eine literarische Tradition, in die Bennett sich hier einreiht – um sie zugleich zu erneuern.

Anders als in den Klassikern des Genres wird Stella nicht enttarnt und bestraft. Ihr Preis für ein Leben in Sicherheit, Freiheit, auch Wohlstand, ist dennoch hoch: Sie schlägt die Tür zu ihrer Vergangenheit zu. Hat keinen Kontakt zu Schwester und Mutter, lebt ihrem Mann und ihrer Tochter Kennedy gegenüber in einem Geflecht aus Lügen.

Bennett nutzt eine (fast) allwissende Erzählstimme, die es ihr ermöglicht, zwischen den Perspektiven ihrer verschiedenen Figuren hin und her zu wechseln. Mit ihrer Hilfe überbrückt sie auch große Zeiträume, geht zehn Jahre voran, um diese in späteren Kapiteln zurückzuspringen, um dann die Sicht einer anderen Figur zu schildern. Die erzählte Zeit erstreckt sich von den späten Dreißigern bis in die späten achtziger Jahre.

Gefühl der Verlassenheit

Das erzählerische Netz, das sie so entfaltet, verbindet die zentralen, allesamt weiblichen Figuren: Desiree und ihre Tochter Jude, Stella und ihre Tochter Kennedy. Die Autorin nimmt sich für jede von ihnen viel Raum. Eindrücklich erzählt sie von Desirees Gefühl der Verlassenheit, der nie endenden Sehnsucht nach der Schwester. Von der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann – zurück nach Mallard. Wo ihre sehr dunkelhäutige Tochter den Schikanen der Mitschüler*innen ausgesetzt ist.

Ebenso einfühlsam umkreist sie die Zerrissenheit Stellas, macht ihre Ambivalenz, ihre letztlich so radikale Entscheidung nachvollziehbar – und wertet sie nicht. Stella performt ihr Weißsein, sie erlernt die dafür notwendigen gesellschaftlichen Verhaltensregeln und wird als Weiße wahrgenommen. Ihr passing legt die Konstruiertheit der Kategorie race und aller daraus abgeleiteten Kategorien bloß.

Die Kritiker*innen sehen Bennett nun gar in die Fußstapfen einer Toni Morrison und eines James Baldwin treten.

Deutlich wird aber auch, dass es eine „Strategie“ ist, die diese Kategorien zugleich bestätigt. Als Ende der sechziger Jahre eine Schwarze Familie in Stellas Nachbarschaft einziehen will, protestiert sie am lautesten. Sie tut es aus Angst, denn sie muss die perfekte Weiße sein.

Kunstvoll arbeitet Bennett mit Kontrasten und Spiegelungen: Aus der ursprünglichen großen Nähe der Zwillinge heraus entwirft sie zwei Lebensentwürfe, die nicht weiter entfernt voneinander sein könnten. In ihren Töchtern Jude und Kennedy, letztere blond und „weiß“, spiegeln sich die Kämpfe der Mütter eine Generation später und finden ein Echo. Die beiden werden sich kennenlernen und trotz der Gegensätze eine Art Freundschaft entwickeln.

Das Motiv des gespaltenen Lebens und der Neuerfindung der eigenen Identität variiert und doppelt die Autorin in weiteren Figuren, die ebenfalls wichtige Teile des erzählerischen Netzes bilden, auch wenn ihre Rollen kleinere sind. Reese ist ­Judes Lebensgefährte, ein Transmann. Verbunden sind beide auch über die Verletzungen, die sie aufgrund ihrer nonkonformen Körper erfahren haben. Auch Reese hat deshalb keinen Kontakt zu seiner Familie. Ihr gemeinsamer Freund Barry wird zweimal im Monat zur Dragqueen Bianca, aber die meisten sollen davon nichts wissen.

Bennetts Roman ist eine so vielschichtige wie mitreißende große Erzählung über Verlust, Trauma und Scham. Darüber, wie der Rassismus der Gesellschaft und auch andere falsche Ideen sich tief in die Individuen einschreiben. Aber Bennett erzählt auch viel über Verbindungen, Zusammenhalt und verschiedene Formen der Liebe. „Die verschwindende Hälfte“ ist auch ein hoffnungsvolles Buch.

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