Fotoausstellung in den Reinbeckhallen: Im Wartehäuschen des Lebens
Obdachlose, Arbeitende, Ruinen und Baustellen: „Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“ zeigt die Hauptstadt im beständigen Wandel.
Der steinerne Engel, das Haupt andächtig gebeugt, lässt den Blick vom Dach des Berliner Doms über die zerbombte Ruinenstadt schweifen. Auf der gegenüberliegenden Wand, im Kontrast zu Herbert Henskys Fotografie: eine von Michael Wesely mehrfach belichtete Baustelle des Potsdamer Platzes in den Neunzigerjahren.
Hier, gleich zu Beginn von „Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“ schließt sich der Kreis, den die Ausstellung in den Reinbeckhallen abzuschreiten versucht: von der Stunde null zur Wiedervereinigung, vom Neuanfang zum Wiederaufbau eines sich beständig erneuernden und verändernden Berlins.
Berlin als Subjekt der Fotografie von 1945 bis 2000, das verspricht der Titel der Schau. Und natürlich, das gibt Kuratorin Candice M. Hamelin gern zu, dieses Thema wird man in einer einzigen Ausstellung niemals komplett, nicht einmal umfassend darstellen können.
Deshalb hat die in Berlin lebende US-Amerikanerin ihre Ausstellung nicht nur in drei Abschnitte unterteilt – vor dem Mauerbau, während der Mauer 1961 bis 1989 und nach dem Fall der Mauer bis zum Jahrtausendwechsel –, sondern sich vor allem auf eine Auswahl von 24 Fotografinnen und Fotografen beschränkt.
Zwischen Dokumentar-, Presse- und Straßenfotografie
Die unvermeidbare Unvollständigkeit fällt sofort ins Auge, weil jemand wie Harald Hauswald fehlt, dessen ikonische Fotos von den Ostberliner Straßen aus den letzten Jahren der DDR parallel in einer großen Retrospektive des Ostkreuz-Fotografen im c/o Berlin zu sehen sind. Trotzdem ist das Spektrum, das „Berlin 1945–2000“ abzudecken vermag, erstaunlich breit.
„Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“: Stiftung Reinbeckhallen, Reinbeckstr. 17, Do./Fr. 16–20, Sa./So. 11–20 Uhr, bis 24. 1.
Ob Dokumentarfotografie oder experimentelle, künstlerische Fotografie oder Porträts, Presse-, Architektur- oder Straßenfotografie, nahezu alle Genres finden sich in den Reinbeckhallen – fotografiert von prominenten Namen wie Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Nan Goldin oder Will McBride, aber auch vergleichsweise unbekannten FotokünstlerInnen.
Einer dieser weniger prominenten Namen ist der von Maria Sewcz. Die Arbeit der Fotografin, sagt Hamelin, stand für sie am Beginn der Ausstellungsplanung. Die Bilder, die die gebürtige Schwerinerin in den späten achtziger Jahren in Ostberlin gemacht hat, zeigen junge Menschen, deren Gesichter nur verdeckt oder im Anschnitt zu erkennen sind.
Es sind Menschen, die wie auf Abruf wirken im Wartehäuschen des Lebens. Auf der Rückseite der Wand, an der Sewcz’ Bilder hängen, ist eine nahezu entgegengesetzte Arbeit zu sehen: die von Karl-Ludwig Lange streng formalistisch abgebildeten Ladenfronten der Oranienstraße in den siebziger Jahren, in denen man Menschen vergeblich sucht.
Keine Dichotomie zwischen Ost und West
Einmal Ost – einmal West, verschiedene Jahrzehnte, anderes Sujet und Genre, und doch treten die beiden Arbeiten miteinander in Dialog, weil sie jeweils von Gruppen erzählen, die keine laute Stimme besaßen: zum einen die von einem Staat unter Mehltau desillusionierten DDR-Bürger, zum anderen die sogenannten „Gastarbeiter“ – und beide befinden sich in einem mentalen Schwebezustand zwischen Hier und Dort, zwischen Ankommen und Weggehen.
Aber Hamelin ist wichtig, dass sie „keine Dichotomie zwischen Ost und West herstellen“ will, sondern dass sich die Arbeiten gegenüberstehen und gegenseitig kommentieren, dass sie sich ergänzen und vielleicht sogar widersprechen. Das gelingt ihr in der Ausstellung sehr viel besser als im Katalog, in dem leider auch nur eine Auswahl der Bilder abgedruckt ist.
Wer die von Miron Zownir fotografierten Trinker, Asozialen, SM-Freaks und andere Westberliner Nachtgestalten betrachtet hat und sich umdreht, dessen Blick fällt in den Reinbeckhallen nun direkt auf eine Serie, die bislang noch nie öffentlich zu sehen war: Roger Melis hat 1969 den Jüdischen Friedhof in Weißensee fotografiert und in den stillen Tableaus eindrucksvoll die schmerzhafte Abwesenheit des jüdischen Lebens in Szene gesetzt. Es ist, als würden die Außenseiter aus verschiedenen Zeiten und Orten miteinander zu sprechen beginnen.
Mitunter ist die gegenseitige Bezugnahme offensichtlicher. Das Bild von Lothar Winkler mit Soldaten, die 1961 den Stacheldraht verlegen, der zum Antifaschistischen Schutzwall werden soll, korrespondiert mit dem von Michael Schmidt fotografierten Loch in der Mauer, durch das der Blick von Kreuzberg aus auf die Ostberliner Skyline fällt.
Die Bilder des frisch im Nachkriegsberlin angekommenen US-Amerikaners Will McBride zeichnen ein ganz anderes Bild als die des gebürtigen Berliners Arno Fischer: Bei dem einen sind zupackende, skeptisch, aber selbstbewusst in die Kamera blickende, ja sogar fröhlich feiernde junge Menschen zu sehen, während die Protagonisten des anderen aus Ruinen unsicher in die Weite schauen. „Egal ob Ost- oder Westberliner, alle scheinen auf etwas zu warten, was außerhalb des Bildes liegt“, sagt Hamelin, die ihre Dissertation über Arno Fischer geschrieben hat, „während McBride zeigt, wie die Berliner in Bewegung sind und die neuen Möglichkeiten erkunden“.
Diese Möglichkeiten, die sich immer wieder auftun, die verschlungenen Wege, die die Geschichte geht, und wie Berlin sich wandelt, entsteht und vergeht, dekonstruiert und aufgebaut wird, das ist das eigentliche Thema der Ausstellung. „Berlin 1945–2000: A Photographic Subject“ ist ein Porträt einer Stadt, aber vor allem eine Liebeserklärung an diese Stadt.
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