Ausstellungsempfehlung für Berlin: Beunruhigung in der Ehrenhalle
Die Ausstellung „A Handful of Dust“ auf einem Neuköllner Friedhof setzt sich mit der Komplexität von Geschichtsschreibung auseinander.
1938, in dem Jahr, als Österreich heim ins Reich kehrt und die Tschechoslowakei zerschlagen wird, im Jahr der Reichspogromnacht, entsteht in der Neuköllner Lilienthalstraße ein Friedhof für gefallene Wehrmachtsoldaten. Wohlgemerkt ein Jahr bevor der deutsche Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg in Gang setzt.
Zu der Friedhofsanlage gehört eine als „Tempel des Vaterlandes“ konzipierte Ehrenhalle, ihr Auftraggeber ist Generalbauinspektor Albert Speer, der für Hitler aus Berlin ein monströses neues Rom namens Germania meißeln lassen wollte.
„A Handful of Dust“: Friedhof Lilienthalstraße, Lilienthalstr. 7, Fr—So 13—19 Uhr, 4.—27. 9. 2020, Programm: www.ahandfulofdust.com
Als Architekt fungiert Wilhelm Büning, in den zwanziger Jahren Miturheber der Weißen Stadt in Reinickendorf, mittlerweile ein Unesco-Kulturerbe. Die Bauarbeiten an Friedhof und Halle dauern bis 1941, dem Jahr, in dem das Dritte Reich Jugoslawien zerschlagen und die Sowjetunion überfallen wird.
80 Jahre später hängen an der Außenfassade des Gebäudes drei längliche Stofffahnen. Sie greifen die Oberflächenstruktur des Gebäudes und seine historische Bannerhängung auf. Von innen betrachtet wirkt die mittlere der Stoffbahnen über dem Eingangsbereich wie ein Fallbeil. „Hallen-Haut-Halle“ hat der Künstler Virol Erol Vert diese Intervention im öffentlichen Raum genannt, sie ist Teil der bis zum 24. September laufenden Ausstellung „A Handful of Dust“.
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Von Pauline Doutreluingne und Petra Poelz kuratiert, wird sie die Ehrenhalle und das Areal mit diversen künstlerischen Aktionen bespielen: Konzerte mit improvisierter und experimenteller Musik, Klanginstallationen, Performances, Rundgängen, Gesprächen und Vorträgen. So ziemlich alles das, was sich „der gute Nazi“ Speer kaum vorgestellt haben dürfte.
Die Ordnung des Raums durchkreuzt
An der rückwärtigen Innenwand der Ehrenhalle hat sich, einem Bühnenhintergrund ähnlich, ein wuchtiger Reichsadler erhalten. Die Ordnung des Raums jedoch wird durch eine Anordnung durchkreuzt. Halb könnte sie aus dem Hygienemuseum stammen, halb aus einem Fetischclub; so ragen drei beleuchtete Skulpturen in Richtung des Hallengewölbes, Schlingentürme, deren Ledergurte, Ketten und Karabinerhaken anorganische Anatomie fixieren: ein Paar aufblasbare Lippen, ein Ohr, mehrere Augäpfel.
„Lösch mir die Augen aus“ haben Viron Erol Vert und die Künstlerin Anne Duk Hee Jordan ihre gemeinsame Installation nach einem Gedicht Rainer Maria Rilkes betitelt, das der Neuromantiker im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts geschrieben hatte.
Bereits 1966 hat das Friedhofsensemble eine Erweiterung erfahren, als in die Freitreppe zur Ehrenhalle ein als Krypta denkbarer Raum eingebaut wurde. Bis 2004 war in dem Geviert der „Silberkranz“ des Bildhauers Ludwig Gies zu sehen. Eine Arbeit von Gies übrigens hängt heute im Plenarsaal des Berliner Reichstags, es ist eine modifizierte Variante seines „Bundesadlers“.
Der „Silberkranz“ ging an das Deutsche Historische Museum und wurde von einer Plastik des Bildhauers Fritz Cremer abgelöst. Cremer hatte enge Kontakte zur antifaschistischen Widerstandsgruppe Rote Kapelle und 1950 übersiedelte er in die DDR. Er nahm die Totenmaske Bertolt Brechts ab und erarbeitete die Figurengruppe des Buchenwald-Denkmals. Auch so lässt sich mit einem Speer-Bau umgehen.
Selbstzeugnisse von Nationalsozialistinnen
Cremers Plastik heißt „Sorgende Frau“ und ist 1948 unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Im Rahmen von „A Handful of Dust“ sind um die Figur acht Frauenbiographien ausgelegt. Es handelt sich dabei um Selbstzeugnisse von Nationalsozialistinnen, die vor 1933 NSDAP-Mitglieder geworden waren, gesammelt von dem US-amerikanischen Soziologen Theodore Fred Abel während eines Forschungsaufenthalts 1934 in Deutschland und in Kooperation mit der NSDAP.
Achtmal geben Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Profession darüber Auskunft, wie ihnen der Führer geholfen habe, „ein kleines Glied an einer großen Kette sein zu dürfen“. Ähnliche Bilder finden sich mehrmals, wie auch die Niederschriften sich in ihrem Aufbau oft ähneln. Gegen ihren Informationsgehalt spricht das nicht.
Die Frauen berichten davon, was für sie auch zum Nazisein gehörte, dem anfänglichen Gefühl, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören, dem Versteckspiel an der Schule, der Auflehnung gegen das Elternhaus. Dass sie sich als um die Kameraden Sorgende porträtieren ist kein Argument gegen Fritz Cremer. Auch nicht, wenn eine von ihnen schreibt, wie ehemalige Kommunisten „die besten und entschlossensten Mitkämpfer“ werden konnten. Eine Beunruhigung ist es auf jeden Fall.
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