: Miese für zwei Erdumrundungen
34,3 Milliarden Euro Schulden haben die nordrhein-westfälischen Kommunen im vergangenen Jahr angehäuft. Das bedeutet: Ein Stapel aus 2,33 Millimeter dicken Ein-Euro-Münzen wäre über 78.900 Kilometer hoch. Ein Blick in die kommunale Sorgenlandschaft
ber Geld spricht man nicht – über Schulden noch weniger. Für die Kämmerer von Nordrhein-Westfalens Pleitekommunen gilt das nicht: Sie teilen ihr Leid mit Kollegen im Internet. Unter www.haushaltssicherungskonzept.de tauschen die Hüter der kommunalen Kassen ihre Erfahrungen aus. Angesichts der neuen städtischen Rekordschulden in Höhe von 34,3 Milliarden Euro ist die Zielgruppe der Selbsthilfegruppe im Netz groß: In 178 von 396 NRW-Städten kämpfte der Kämmerer im vergangenen Jahr ihre Haushaltspläne von der Bezirksregierung genehmigen lassen. Und 77 Städte mussten wegen eines nicht genehmigten Haushaltskonzept die Ausgabe eines jeden Euro vom Regierungspräsidenten absegnen lassen. Die taz dokumentiert das Abrutschen in die Schuldenfalle und die Suche nach Auswegen.
Der Absturz: „2003 war ein bestialisches Jahr“, erinnert sich Dortmunds Kämmerer Guntram Pehlke, „da kam alles zusammen“. Einbruch der Einnahmen und ein Anstieg der städtischen Sozialabgaben. Allein die Gewerbesteuer sackte von 180 auf 130 Millionen Euro in sich zusammen. Ein Drittel Verlust.
Die Gewerbesteuer sei zu einer unkalkulierbaren „Achterbahnabgabe“ mutiert, sagt Bergisch-Gladbachs Kämmerer Michael Kotulla. Was heute noch sprudelt, ist morgen schon versiegt. An permanent sinkende Einnahmen aus Schlüsselzuweisungen oder der Einkommenssteuerbeteiligung haben sich die Kämmerer schon gewöhnt. Doch die Auswirkungen der rot-grünen Steuerreform brachen vielen angeschlagenen Städten und Gemeinden 2003 vollends das Genick: Um 60 Milliarden Euro Körperschaftssteuer wurden Unternehmer entlastet, die Kommunen zahlten mit. Schlagartig schnellte die Zahl der NRW-Städte im Haushaltssicherungskonzept von 107 auf 180 hoch.
Die versuchte Rettung: Man kann den Städten nicht einmal vorwerfen, dass sie nicht alles unternommen hätten. Aktienbeteiligungen an Privatunternehmen? Längst verkauft. Kommunale Stadtwerke ohne private Investoren? Es gibt sie kaum noch. Das Problem: „Tafelsilber“ lässt sich nur einmal verkaufen. Beispiel Bochum: 2003 setzte sich die damalige Stadtkämmerin und jetzige SPD-Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz in einen Flieger in die USA, um ihr Kanalsystem zu vermieten. 20 Millionen Euro brachte der Cross-Border-Leasing-Deal ein. Gelsenkirchen und Recklinghausen taten dasselbe. Das Ergebnis: Alle drei Städte unterliegen heute dennoch der Haushaltssicherung.
Das große Sparen: Als erstes trifft es häufig den Bücherbus. 77 Haltestellen fuhr die rollende Filiale der Stadtbibliothek Köln bis Ende 2003 an – bis er der Haushaltskonsolidierung zum Opfer fiel. Auch die Städte Recklinghausen und Bochum verbannten ihre Bücherbusse in die Garagen. Der Grund: Steht eine Kommune unter Haushaltssicherung, muss sie zuerst bei den so genannten „freiwilligen Leistungen“ sparen. Anders als Pflichtleistungen wie die Auszahlung von Sozialhilfe und der Unterhalt von Schulen fallen diese zuerst weg. Sportförderung wird ebenso gekürzt wie Zuschüsse für Museen.
Der Weg hinaus: Die Not der Kommunen. Das ganz große Lamento gehört auch zum Soundtrack der NRW-Landespolitik. Es wurde zumindest in Teilen erhört: Vor der Landtagswahl versprachen alle Parteien den Städten eine mittelfristig bessere Finanzausstattung. Bereits 2004 hatte der Landtag die NRW-Verfassung geändert, um den meist darbenden Gemeinden zu helfen. Das so genannte „Konnexitätsprinzip“ wurde beschlossen. Das Motto des neuen Verfassungsartikels: „Wer bestellt, muss auch bezahlen.“ Das Land Nordrhein-Westfalen darf künftig keine Gesetze mehr beschließen, deren Ausführung die Städte und Gemeinden bezahlen müssen.
Die Enttäuschung: In der Praxis hat die neue Bestimmung jedoch wenig Relevanz. Noch immer beschließt der Landtag Gesetze, die auch die Kommunen finanziell belasten. Beispiel: Das Neue Kommunale Finanzmanagement (NKF). Bis zum Jahr 2009 müssen alle 396 Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen vom alten Kameralismus auf doppelte Buchführung umstellen. Für die Kommunen fallen durch NKF nach Expertenschätzungen Kosten in Höhe von 720 Millionen Euro an. Vor allem die notwendige Software-Umstellung ist teuer. Auch im Programm der schwarz-gelben Landesregierung sind Risiken und Nebenwirkungen für die Kommunen enthalten. CDU und FDP planen eine große Verwaltungsstrukturreform. Bezirks- und Landesbehörden sollen abgeschafft werden, ihre Aufgaben sollen auch die Kommunen übernehmen. Gemeindebund und Landkreistag erwarten nun vom Land auch mehr finanzielle Mittel, damit „neue Aufgaben selbstständig und eigenverantwortlich erledigt werden können“.
Die große Unbekannte: Ob im September alles anders wird? Der Ausgang der Bundestagswahl entscheidet auch über die Zukunft der Gemeindefinanzen. Die Gewerbesteuer gänzlich abschaffen möchte die FDP. In ihrem Wahlprogramm bieten die Liberalen den Kommunen zum Ausgleich eine höhere Beteiligung an der Umsatzsteuer und der Einkommensteuer an. Auch die Union wollte – angelehnt an ein Konzept ihres Thinktanks „Initiative Soziale Marktwirtschaft“ – die Gewerbesteuer wegfallen lassen. Erst auf Druck ihrer eigenen Bürgermeister strich die CDU den Vorschlag aus ihrem Wahlprogramm. Den Deutschen Städtetag beruhigt‘s: Für die vereinigten Rathauschefs ist die gute alte Gewerbesteuer „derzeit ohne Alternative“ – solang sie denn fließt. UTA BAIER, RALF GÖTZE, K. JANSEN, M. TEIGELER
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