Buch über Jugend in Neu-Tempelhof: Wo man sich schön verlaufen kann

Die Suche nach ruhigen Straßen in Berlin führte erst nach Neu-Tempelhof. Dann zu Manfred Suttingers Buch über seine Kindheit dort.

Die Kirche St. Judas Thaddäus in Neu-Tempelhof von außen.

Ein Hauch von Le Corbusier: die Kirche St. Judas Thaddäus in Neu-Tempelhof Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Die Abendspaziergänge in den ersten Lockdown-Wochen brachten mich, wenn es in Parks in Schöneberg und auf den Straßen Kreuzbergs zu voll wurde, nach Neu-Tempelhof. In der ehemaligen Gartenstadt gegenüber vom Tempelhofer Flugfeld kann man sich erstens wunderbar verlaufen, denn viele Straßenzüge sind gebogen wie ein Hufeisen, und während man denkt, man läuft geradeaus, landet man wieder nahe am Ausgangspunkt. Zweitens ist es ruhig, beinahe dörflich zwischen Teilen der Gartenstadt, und die Fantasie liegt nahe, Berlin schon verlassen zu haben, allein weil es so still ist.

Drittens gibt es viel zu entdecken, wie die ungewöhnliche, 1959 aus geschwungenem Beton und Glasbausteinen gebaute Kirche St. Judas Thaddäus, die ein wenig an Le Corbusier erinnert; wie Torhäuser, die dem ganzen Ensemble etwas Verstecktes und Feudales verleihen, oder den Parkring, ein teils niedriger als die Straßen verlaufender Park, der unter Brücken durchführt und überraschend lauschig gestaltet ist.

Nach solchen Spaziergängen habe ich nicht selten auf Wikipedia nach Informationen und Geschichten zu dem Stadtteil gesucht. Und so zum Beispiel erfahren, dass der Parkring 2003 fast einem Mitarbeiterparkplatz des St. Joseph-Krankenhauses hätte weichen sollen. Eine Anwohnerinitiative – vielen Dank dafür – hat dies verhindert: und die, so kann man ihrer Website parkringneutempelhof.de entnehmen, veranstaltet auch Konzerte im Park. 2019 zumindest war das noch so.

Das Interesse an dem Viertel, das in den 1920/30er Jahren entstanden war, war also geweckt, da erreichte die Redaktion ein Buch, in dem der Autor, Manfred Suttinger, von seiner Kindheit in Neu-Tempelhof erzählt, „Als ich Kennedy verpasste“. 1957 geboren, wuchs er mit seinen Eltern und einer Schwester in einer Doppelhaushälfte auf, die sein Vater dort geerbt hatte. Was er beschreibt, ist einerseits sehr persönlich, ausführlich widmet er sich etwa der unglücklichen Ehe der Eltern.

Manfred Suttinger: „Als ich Kennedy verpasste“. Verlag Theo Kastel, Berlin 2019, 220 Seiten, 14,90 Euro

Damit entsteht andererseits aber eine sehr anschauliche Erzählung über die frühe Nachkriegszeit, die Vermeidung von Schuldfragen, den Umgang mit Verletzungen und Kränkungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die das Schweigen zwischen den Eheleuten und die Stummheit des Vaters gegenüber seinen Kindern zu einem erheblichen Teil ausmacht. Die Siedlung, ihre Häuser, die kleinstädtische Struktur, ihre Gärten, die auch für die Selbstversorgung der Bewohner gedacht waren, spielen dabei eine große Rolle.

Schrumplige, mehlige Äpfel

Auf dem Buchtitel sieht man den Autor als Jungen auf einer Schaukel, sie hing am Boskoop-Baum im Garten. Die Boskoop-Äpfel hat er gehasst, denn nie durften die Kinder sie essen, wenn sie frisch und knackig waren. Sie wurden eingelagert und zum Schulbrot mitgegeben, und immer waren noch alte, schrumplige, mehlige Äpfel da, wenn neue geerntet wurden.

Detailreich, manchmal mit trockenem Humor illustriert Suttinger die Sparsamkeit seiner Kindheit, die seine Mutter direkt in die von der Kirche organisierte Umweltbewegung führte. Das Eingeweckte stand im Keller, aber als die Mutter auch Strom und Licht zu sparen begann, fiel sie im Dunkeln die Kellertreppe runter.

Er erzählt von der Schule, von vielen noch vom Nationalsozialismus geprägten Lehrern, autoritär bis zum Sadismus. Frau Kränke, die das Kinderturnen leitete, umschlich die gebeugten Rücken wie ein „Raubtier“, und wer nicht krumm genug war, dem schob sie mit „wippenden Bewegungen die noch biegsamen Kinderknochen in die gewünschte Stellung“.

Eine Doppelhausvilla in der Manfred-von-Richthofen-Straße.

Die Manfred-von-Richthofen-Straße in Neu-Tempelhof Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Die Klassenlehrerin seiner Schwester, ehemals Funktionärin im Nationalsozialistischen Lehrerbund, zog Unfolgsame an den Haaren, verteilte Kopfnüsse und ließ niemanden auf Toilette. „Nach Lesart der Nazis“, schreibt Suttinger, „gehörte der Leib dem Staat, der ihn nach Belieben drillen und kampftauglich machen durfte.“ Kritik unter den Eltern löste das in jenen Jahren nicht aus.

Verlust der sozialen Kontaktformen

Ausführlich, und das liest sich unterhaltsam, schreibt er auch über die sich verändernden Konsumgewohnheiten in den 1960er Jahren, als Supermärkte den kleinen Einzelhandelsgeschäften den Garaus machten. Er rekonstruiert dabei die Perspektive seiner Kindheit, den Missmut, dass seine sparsame Familie eben nicht aus dem Versandhaus bestellte und die Elternhäuser der Nachbarskinder viel anziehender auf ihn wirkten, offen für Neuanschaffungen.

Zugleich aber erzählt er vom Verlust der sozialen Kontaktformen, als man eben nicht mehr zum Milchhändler, der den Milchtank im Tresen hatte, und zum Uhrmacher ging.

Der Parkring, den ich jetzt so gern durchstreife, taucht auf als ein Gelände, dass die Mutteraugen stets nach Gefahren absuchten – nicht auf das Nilpferd klettern, man könnte runterrutschen. Suttingers Film der Vergangenheit findet im Bild der Straßen von Neu-Tempelhof noch immer viel Wiedererkennbares in der kleinteiligen Struktur. Man könnte das Buch dort auf einer Parkbank lesen.

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