Der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee: „So wunderbar schön“
Vor 140 Jahren geschlossen, ist der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee ein begehbares Sepulkralmuseum. Und eine Ruheoase mit morbidem Charme.
Auf geht es also in die Schönhauser Allee, wo sich der 1827 eröffnete Jüdische Friedhof befindet, damals hieß die Straße noch Pankower Chaussee. Kurz nach der Eröffnung des Friedhofs Weißensee am 9. September 1880 wurde er als Beerdigungsstätte für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Berlin offiziell geschlossen.
Vereinzelt konnten noch Erbbegräbnisse weiter belegt werden, bei denen Familien das dauerhafte Nutzungsrecht von der Jüdischen Gemeinde gekauft hatten. Bis 1926 waren es 746 solcher Beerdigungen auf einem Friedhof mit insgesamt 22.469 Gräbern. 1976 schließlich fand die letzte Bestattung in einem Erbbegräbnis statt.
Mein Begleiter hat sich mittlerweile in sein Schicksal gefügt, und natürlich ist auch kein „body guard“ vonnöten. Der Friedhof ist ungewöhnlich exponiert, weil er bis auf die Mauern zur Straße hin vollständig von Wohnhäusern umrahmt wird, deren Bewohner vom Balkon aus einen exklusiven Blick auf die Stadt der Toten haben. Und irgendeiner schaut immer aus dem Fenster, hinaus in das Grün der uralten Bäume, die im Sommer angenehmen Schatten bieten.
Öffnungszeiten In der Chronologie der Jüdischen Friedhöfe von Berlin steht der Friedhof Schönhauser Allee – nach dem Spandauer „Judenkiewer“ (1324 eröffnet) und dem Friedhof an der Großen Hamburger Straße (1672) – an dritter Stelle. Der Friedhof in der Schönhauser Allee 23–25 liegt nördlich des Senefelderplatzes im Ortsteil Prenzlauer Berg. Er wurde hauptsächlich zwischen 1827 und 1880 genutzt. Die Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 8 bis 16 Uhr, Freitag 7.30 bis 13 Uhr; männliche Besucher werden gebeten, eine Kopfbedeckung zu tragen. Am Schabbat (Samstag), Sonntag und an den jüdischen Feiertagen ist der Friedhof geschlossen.
Weiterlesen Weiterführende Literatur mit zahlreichen Kurzbiografien enthält das empfehlenswerte Buch „Der Jüdische Friedhof Schönhauser Allee“ von Rosemarie Köhler und Ulrich Kratz-Whan, Haude & Spener, Berlin 1992, 191 Seiten. (bm)
Spuren sinnloser Verwüstungen
Nicht alle dieser Häuser existierten damals, das Bauwerk gleich nebenan jedoch schon, in dem am 11. November 1883 das Jüdische Altersheim eingeweiht wurde. Die Zimmer des linken Seitentraktes gaben den Blick auf eine allerletzte Ruhestätte frei. Doch es kam anders: Nach 1941 wurde auch dieses Altersheim geschlossen und Bewohner und Personal wurden nach Auschwitz deportiert.
Die Kriegsschäden, die Spuren der sinnlosen Verwüstungen vor allem aus den Jahren 1939 bis 1945, sind stellenweise immer noch sichtbar. Umgestürzte Grabsteine, Fragmente von Grabtafeln, aber auch überwucherte oder verwitterte Steine, auf denen nicht mehr zu erkennen ist, wer dort begraben liegt. Ein undurchschaubarer Wildwuchs von dichtem Efeu birgt ebenfalls Geheimnisse.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel der Friedhof zusehends, unaufhaltsam machte sich die Natur breit, der sich vereinzelt Menschen helfend entgegenstemmten. Doch gegen sinnlose Zerstörungswut konnten auch sie nichts ausrichten. 1988, noch zu DDR-Zeiten, wüteten Jugendliche auf dem Friedhof und zerstörten 222 Gräber; 1997 wurden 30 Steine umgestoßen und beschädigt.
Es gibt daran nichts zu rütteln: Der historisch bedeutsame Friedhof als begehbares Sepulkralmuseum und Geschichtsbuch ist in einem schlechten Zustand. Selbst dem Ehrengrab des Juristen und Stadtältesten Albert Mosse aus der berühmten Verlegerfamilie sieht man an, dass hier Vandalen am Werk gewesen sein müssen.
Ehrengräber der Stadt Berlin
Der Grabstein des Bruders des Verlegers Rudolf Mosse ist aus vier Teilen wieder zusammengefügt worden. Ein schlichter Grabstein mit Rissen, auf dem noch der Name Hans Mosse an den im August 1916 vor Verdun gefallenen Sohn von Albert erinnert. Das Mosse-Grab ist eins von vier Ehrengräbern der Stadt: Außer dem von Mosse wurden noch die Gräber des Theologen Abraham Geiger, des Malers Max Liebermann und des Komponisten Giacomo Meyerbeer mit dem Berliner Ehrengrabzeichen gekrönt.
Wir wandern weiter, unser Blick fällt auf eine Stelle, wo nur noch Bruchstücke liegen. Ein Fragment gibt lediglich den Vornamen des Verstorbenen, „Max“, preis und seinen Beruf: „Geh. Sani[tätsrat]“. Keine Lebensdaten, kein Geburtsort, der Doktor ist einer von vielen vergessenen Namen, über die weder ein Beerdigungsregister noch ein Belegungsplan Auskunft mehr geben kann, weil diese historische Quelle vernichtet worden ist.
Eine ABM-Maßnahme in den 1990er Jahren sollte mit einer „Inventarisation und Erforschung“ zwar eine „Zweitüberlieferung des gefährdeten Ortes in Bild und Text“ liefern und so dieses steinerne Gedächtnis des jüdischen Berlins auffrischen, doch das Projekt, eine Kooperation des Prenzlauer Berg Museums mit dem Essener Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, konnte aus Geldmangel nicht mehr weitergeführt werden.
Trotz aller Mängel und Zerstörung kann der Friedhof, neben seiner offensichtlichen historischen Bedeutung, noch weitere Funktionen haben: als begehbarer Stadtraum und als Ruheoase. Als überkonfessionelles Ausflugsziel, für die Zeit wohl ein sehr fortschrittlicher Gedanke, beschrieb ihn 1864 Leopold Jacobs in einem Aufsatz schwärmerisch: „So wunderbar schön ist der Anblick, den der Jüdische Friedhof im Frühjahr und Sommer darbietet, dass fast täglich auch christliche Besucher hier her kommen, um die Blumengänge zu durchwandeln.“
Bekannte Namen
Die Blumengänge sind verschwunden, im Hier und Jetzt herrscht eher ein morbider Charme. Zahlreiche Grabstätten, hinter denen sich viele Geschichten verbergen, erstaunen noch heute. Da ist zum Beispiel eine seltene Scheinpyramide des Unternehmers Ludwig Loewe, die mit einem – gemäß dem Abbildungsverbot des Dekalogs [Zehn Gebote] – eigentlich verbotenen Porträtrelief verziert ist, das die Gattin des Kaufmanns, Sophie geb. Lindenheim, zeigt, die nur ein Alter von 28 Jahren erreichte. In dem Moment, in dem wir davor verweilen, lässt die Sonne das Relief erstrahlen.
Wir gehen weiter, entdecken bekannte Namen wie Ullstein oder Rathenau. Die Frauenrechtlerin Josephine Levy-Rathenau, eine Cousine des 1922 ermordeten Politikers Walther Rathenau, fand ihre letzte Ruhe in Feld L 3. Stilisierte Rosenbouquets in drei Schalen schmücken ihr schlichtes Grab.
Auf einmal ist mein Begleiter verschwunden, offensichtlich hat ihn die spürbare Historie des Ortes doch noch aufgesogen. Ich finde ihn sinnierend vor dem Grabstein von Louis Moll wieder, den der Tod am 29. Mai 1884 während eines Kuraufenthalts in Marienbad dahinraffte und dessen positive Eigenschaften in einem Gedicht auf dem Grabstein verewigt wurden, in dem es unter anderem heißt: „Manch hohe Tugend zierte dich im Leben. Du warst der Menschen wahrer Freund.“ Lobende Worte über den Stadtältesten aus Charlottenburg, von denen manche Politiker heute nur träumen können, und das vergeblich.
Fünf Hektar umfasst der fünfeckige Friedhof, was nur ein Bruchteil des mit 42 Hektar riesigen Areals von Weißensee ist. Aufgeteilt ist er in elf Begräbnisfelder, von denen die mit „W“ bezeichneten Ränder die Erbbegräbnisse bilden und Feld A die Ehrenreihe vor allem für Rabbiner, Rabbineranwärter und deren Ehefrauen ist. Oft beherrschen einheitliche Stelen oder Obelisk-ähnliche Steine das Bild, wie man sie auch aus Weißensee kennt.
An einer Stelle sehen wir den Fernsehturm, der uns jäh aus der faszinierenden Zeitreise zurückholt. Vor dem Lapidarium in der Nähe des Eingangs, in dem 60 uralte Grabsteine ausgestellt sind, stehen wir an diesem Brückentag vor verschlossener Tür. Wir verlassen den Friedhof, um viele Eindrücke reicher. „Da können wir beim nächsten Mal wieder hingehen“, sagt mein Begleiter.
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