piwik no script img

„Gewalt und Missbrauch sind schlimmer geworden“

Für den UN-Bericht hat Migrationsforscher Bram Frouws Interviews mit 16.000 Menschen ausgewertet. Bei Todesfällen geht er von einer hohen Dunkelziffer aus

MMC

Bram Frouws

leitet die Forschungsstelle Mixed Migration Centre in Genf.

Interview Christian Jakob

taz: Herr Frouws, Sie und Ihr Team am Mixed Migration Centre versuchen, das Ausmaß der Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten in Afrika zu erfassen. Wie machen Sie das?

Bram Frouws: Wir haben ein Netzwerk von 120 InterviewerInnen entlang der wichtigsten Migrations­routen aufgebaut – in Libyen, Tunesien, Mali, Burkina Faso, Niger, Äthiopien, Kenia und Ägypten. Die InterviewerInnen sind oft selbst Flüchtlinge oder ­MigrantInnen, die in den Ländern ­aufgenommen wurden. So haben sie einen viel besseren Zugang zu den Menschen im Transit, als Europäer ihn ­bekommen würden. Sie haben in den letzten Jahren etwa 16.000 Menschen befragt.

Viele Gewalttaten oder tödliche Unfälle ereignen sich in extrem entlegenen Regionen. Wie behalten Sie diese im Blick?

Unsere InterviewerInnen sind selbst nicht an diesen extrem entlegenen Orten, aber dafür an strategischen Knotenpunkten der Migration, etwa in Timbuktu oder Gao in Mali, Agadez in Niger oder Sabha in Libyen.

Sie erheben diese Daten seit 2014. Was hat sich seither verändert?

Die Zahl der MigrantInnen ist in den letzten Jahren stark gesunken, teils wegen Europas Bemühungen, die Reisen der Menschen schon weit vor dem Mittelmeer zu stoppen. Wir sehen, dass immer mehr Menschen unterwegs stecken bleiben, zuletzt auch durch Covid-19. Und vor allem sehen wir, dass Gewalt und Missbrauch immer schlimmer geworden sind.

Warum ist das so?

Die Menschen sind häufiger gezwungen, Routen zu benutzen, auf denen sie von Schmugglern abhängig sind. Das macht sie angreifbarer, denn Schmuggler sind oft die Gewalttäter.

Auf Betreiben Europas wurde die legale Route durch Niger nach Libyen 2016 gesperrt. Spielt das dabei eine Rolle?

Das ist nicht unwahrscheinlich. Heute gibt es mehr Kontrollpunkte und mehr Abhängigkeit von Schmugglern, die gefährlichere Wege durch die Wüste nehmen. Das setzt die Menschen im Transit Gefahren aus. Auch die Überfahrt über das Mittelmeer ist schwieriger geworden. Die Schmuggler haben deshalb offensichtlich teils ihr Geschäftsmodell geändert und nehmen häufiger Menschen gefangen, etwa um Lösegeld zu erpressen.

Die Zahl der Insassen in den libyschen Lagern ist aber laut ihrem Bericht gesunken.

Ja, aber das sind nur die offiziellen Zahlen. Es gibt viele informelle Internierungslager,über die wir kaum etwas in Erfahrung bringen können.

Sie sprechen von der Sahara als „tödlichster Route“. Die Zahl der dort von ihnen erfassten Todesfälle in den letzten beiden Jahren liegt aber mit 1.750 weit unter der im Mittelmeer.

Das ist richtig, aber die Dunkelziffer ist extrem hoch. Die Toten im Mittelmeer sind vermutlich recht genau erfasst. In der Sahara ist das nicht der Fall. Die 16.000 Menschen, die wie befragt haben, sind nur ein kleiner Ausschnitt, die Unfälle und Gewalttaten, von denen wir erfahren, nur die Spitze des Eisbergs. Wir halten es für wahrscheinlich, dass auf den Landrouten heute sehr viel mehr Menschen sterben als im Meer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen