: Gentrification ländlich
Das ehemalige Pflegeheim Schloss Lanke im Berliner Nordosten wird diesen Sommer temporär zwischengenutzt: In märchenhafter Umgebung pflegt man den urbanen Lifestyle hier im Grünen
VON ANDREAS BECKER
Nur das Dach wurde irgendwann aufwändig repariert, die Rundtürmchen mit neuem Blech verkleidet und die Erkerfenster mit ihrem Stuck restauriert. Darunter ziehen sich Risse durch die grauen Wände, das Fundament ist völlig marode und grünlich von der eingedrungenen Feuchtigkeit. Auch das Innere dieser ehemaligen Irrenanstalt mit ihrem wunderschönen, von Lenné angelegten und lockere 25.000 Quadratmeter großen Park wurde seit der Wende nicht instand gesetzt. Deshalb sind Strom- und Wasserversorgung heute kaum noch nutzbar. Dass Schloss Lanke, zehn Kilometer nördlich von Bernau gelegen, der Stadt Berlin gehört, ist bei der eigentümlichen Art der Sanierung schon fast wieder sinnbildlich.
Wenn die Stadt Berlin nicht so pleite wäre, wäre aus dem Ende des 19. Jahrhunderts von einem Grafen gebaute Schloss Lanke wohl längst ein luxuriöses Gästehaus des Senats geworden. Der Graf übrigens verzockte das Anwesen inklusive der überdimensionierten Reitstallungen später angeblich im Kasino.
Wie auch immer – und weiter mit den Signifikanten deutscher Historie: Später schnappten sich die Nazis das Schloss. In der Gegend wimmelte es ohnehin von Militäranlagen wie dem riesigen Flughafen Finow, fiesen Menschenforschungsanstalten und Arbeitslagern.
In der DDR-Zeit wurden dann bis Anfang der Neunzigerjahre im Schloss die Verrückten von den Lobetal’schen Anstalten festgehalten – zu Bedingungen, die man sich lieber nicht ausmalen möchte. In Lobetal, einige Kilometer entfernt von Lanke mitten im Wald gelegen, verbrachte auch Erich Honecker einige Monate, bevor er nach Chile in die ewigen Jagdgründe verschwand.
Vorn am Eingang steht in Metallbuchstaben „Gertrud Seele Haus“. An den Löchern im Mauerwerk sieht man noch: Früher hieß es „Krankenhaus“. Wo wohl die Buchstaben für die „Kranken“ geblieben sind? Man hat das „Haus“ einfach weiter nach vorn gerückt, um keine Geschichts-Lücke entstehen zu lassen.
Die neuen Betreiber vom Verein „Temporär“ lassen die Details der Hausgeschichte nicht unter den Tisch fallen und haben sie auf kleinen Schrifttäfelchen vermerkt. Die hängen in einer Fotoausstellung, die die Schlossräume zeigt, wie sie nach über zehn Jahren Leerstand aussahen: Gekachelte Gemeinschaftswaschräume und hier und da eine Rufanlage, mit der im Notfall wohl die Pfleger mit den Spritzen und Zwangsjacken geholt wurden.
Mathias Gordon vom Temporär e. V. steht mit einem Milchkaffee vor dem Schloss. Er hat gerade einen Anruf der Küchencrew erhalten, die bei dem Andrang von Partygästen nicht mit dem Kochen hinterherkommt und Verstärkung braucht.
Ein Freund von Gordon mit Connections zur Immobilienbranche hat das Anwesen entdeckt. Er rief damals einfach beim Liegenschaftsfonds des Senats an und schaffte es tatsächlich, einen tragbaren Mietvertrag auszuhandeln. Und in diesem Sommer bietet der Verein jedes Wochenende ein ambitioniertes und vielfältiges Kulturprogramm an – und fördert nebenbei die Vermarktung des Gebäudes. Gentrification auf ländlich.
Die Mischung der parkenden Autos aus der Region, hauptsächlich aber aus Berlin, ist ziemlich originell. Die typischen Freakfahrzeuge wie zum Schlafwagen ausgebaute Transporter sind da, aber ins Auge fallen coole ältere Sportwagen und ein nagelneuer Cabrio-Daimler, der sich gerade durch die zugeparkte Schlosszufahrt quält. Es ist, als habe die Mittecrowd einen Landausflug gemacht. Aber schon am nahen See von Lanke trifft man keinen von den Coolnicks mehr, hier dominieren die ganz normalen Landprolls und machen Köpper vom Steg in den See.
Mathias Gordon erzählt, es gebe schon Kontakt zur Nachbarschaft. Man versucht, sich die Faschos vom Hals zu halten. Der DJ-Act von Ellen Allien, der letzten Sonntag als Geheimauftritt neben Captain Comatose bei einer Geburtstagparty von mehreren Freunden der Temporär-Leute im Garten stattfand, lockte denn auch einige eigentlich ganz nett aussehende Nachbarn an. Doof nur, dass die ihren Kampfhund dabeihatten. Als das Vieh frei auf dem Rasen rumläuft und sich die Kinder der früh erwachsenen Szenepeople krabbelnd dem Hund nähern, wirft ein Vater vor Schreck seine Bionade um und zerrt seine Tochter weg von den Brandenburgern. Niemand aber will Streit, und deshalb trottet der Kampfhund weiter zwischen den auf dem Rasen Lümmelnden rum.
Ansonsten ist die Stimmung sehr relaxt. Der Eintritt kostet meist gar nichts, an der Getränkebar zahlt man beim ersten Bier einen geringen „Kulturzuschlag“ und bekommt als Beleg einen Stempel in die Hand. Profite will hier keiner machen. Die einzigen Regeln sind: „Nichts kaputt machen. Keine eigenen Getränke mitbringen. Erster und zweiter Stock des Hauses sind tabu.“ Obwohl man von hier einen wunderbaren Blick auf die Partygemeinde im Garten hätte, aber die imaginäre Baupolizei wacht auch in Lanke über gefährliche Treppen.
Der Park ist größer, als man zunächst annimmt. Hinter einem Mäuerchen liegen Leute in Hängematten unter großen Bäumen, an denen eine Leinwand für Filme befestigt ist. Alles scheint hier möglich. Passiert man einen Pfad mit Holzspänen in ein kleines Tal, sieht man drei kleine neue Holzbüdchen („Cabins“), die von innen recht kuschelig aussehen. Von hier hört man die Bands und DJs nur gedämpft. Die Cabins kann man mieten – für Stunden, Nächte, Tage oder Wochen. Der Club im Grünen als Rundum-sorglos-Paket.
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