Abschied von Matthias Lilienthal: Mit Gras und Sonne
Mit einer „Opening Ceremony“ im Olympiastadion endet Lilienthals Intendanz an den Münchner Kammerspielen. Toshiki Okada inszenierte den Abgesang.
Mit einer „Opening Ceremony“ eine Intendanz zu beenden, darauf muss man erst mal kommen. Was sich jedenfalls öffnet, als Matthias Lilienthals Kammerspiele-Ensemble zu seinem letzten Streich antritt, ist der Himmel über München. Es war nicht vorauszusehen, dass der Regen an diesem wasserreichen Julitag eine großzügige Nachmittagspause macht. Es ist aber schön, schließlich hat schon die Coronapandemie dem Mann aus Berlin großflächig den Abgang verhagelt.
Um die Eigendynamik der Natur geht es irgendwie auch in dem Abschiedswinken, zu dem die Kammerspiele ins Münchner Olympiastadion eingeladen haben. Es ist die wohl größte Bühne der Stadt und ein Ort, den Lilienthal sehr mag, weil er – erbaut für die Olympischen Sommerspiele 1972 – die Vision einer offenen und demokratischen Gesellschaft verkörpert.
Sich dieser grandiosen Architektur zu stellen ist mutig und ein letzter Beweis dafür, dass der zunächst stark angefeindete und in seinem fünften Jahr gefeierte Intendant immer für eine Überraschung gut ist – und die Gegensätze liebt. Denn den großen Raum füllt hier ein ausgemachter Meister des Kleinen.
Toshiki Okada war einer der wichtigsten Regisseure der Lilienthal-Zeit in München. Sein Thema ist die Vereinzelung (japanischer) Großstädter, seine Sprache eine autistisch anmutende Abfolge von Bewegungs-Ticks, die seine Performer unter ihrem Dauerquasseln (und oftmals ihm widersprechend) mitlaufen lassen.
Okada extra aus Japan angereist
Was etwa Julia Windischbauer in und als „The Vakuum Cleaner“ aussehen lassen konnte, als würde es ohne ihr eigenes Zutun mit ihrem Körper passieren, muss sehr lange geprobt werden.
Für die „Opening Ceremony“ ist Okada für ganze fünf Tage aus Japan angereist (was eine lokale Zeitung zum Anlass genommen hat, über die CO2-Bilanz umweltbewegter Kulturschaffender zu räsonieren). Er hätte auf einer Szene aufbauen können, die er für das coronabedingt abgesagte Spektakel „Olympia 2666“ schon im Kasten hatte.
Doch was jetzt gezeigt wurde, ist neu, dauert keine Stunde und steht damit im größtmöglichen Kontrast zum ursprünglich geplanten Abschieds-Schaulaufen, das – analog zu Lilienthals Abschied vom HAU 2012 – 24 Stunden hätte dauern sollen. Das ist durchaus als Antiklimax und als Ja zu den neuen Zeiten zu sehen, aber auch ein wenig enttäuschend.
Auf der größten Bühne der Stadt wirken die 18 Schauspieler winzig. Das 70.000 Menschen fassende Stadion gerät zum Suchbild, seine Leere zur Aufforderung, der Herkunft der Stimmen nachzuforschen, die die Stadionanlage überträgt.
Sie muss aufs Klo und mag es sauber
Die erste stammt von Julia Riedler, die sich von ihrer Natur – sie muss aufs Klo – und ihrer Kultur – sie mag es neu und sauber – zu einem Stunt genötigt sieht: Vom transparenten Dach des Olympiastadions aus, dem wohl schönsten Architekturdenkmal Münchens, fliegt sie mit Europas längstem Flying Fox 200 Meter gen Allianz-Arena. Ein gelber Umhang flattert hinter ihr her.
Das war’s dann aber schon mit dem Spektakel. Nach ihr gießen zehn Leute mit grünen Plastikkannen das Gras neben der Sprintbahn, die wie Touristen gekleidet sind – oder wie japanische Rasenpfleger, denn das vielstimmig beschworene „globale Event“, auf dessen Eröffnung sie das Grün halbherzig vorbereiten, ist natürlich nicht der Lilienthal-Abschied, sondern die Sommer-Olympiade in Tokio, die am 23. Juli begonnen hätte.
Während die zehn nun ihre Kannen schwenken, fliegen ihre Fragen durch die Luft, in die sie versonnen Löcher schauen: Werden sie’s später machen oder nicht? Und wenn, dann wann – und wie?
Fragen, die auch die absagen- und verschiebungsgeplagte Kulturwelt in den vergangenen Monaten beschäftigt hielten, hier aber nicht von der nächsten Corona-PK der Regierung, sondern von (Super-)„Mario“ beantwortet werden, jenem allzeit bereiten Klempner aus dem Videospiel, von dem es auch eine Olympiaausgabe gibt und der, wie es heißt, „alle Pannen dieser Welt reparieren kann“.
Verträumte Gießkannenschwenker
Dieser seltsame Messias ploppt in den Weiten des Stadions in verschiedenen Versionen auf. Die schönste ist Samouil Stoyanov, der sich im voluminösen Blaumann auf einem Mini-Gokart abstrampelt (und immer wieder hintüberkippt), dem Publikum ein Warm-up aufdrängt (inklusive „Mario-Juchzer“) und den verträumten Gießkannenschwenkern die Botschaft überbringt, „dass das globale Event unverändert unter dem Namen „das globale Event“ stattfinden kann“.
Okadas Text ist verspielt, manchmal poetisch, teils banal und immer redundant. Doch egal, was die Schauspieler sagen, diese letzte Begegnung mit ihnen geht ans Herz. Neben Deutsch wird Japanisch und Arabisch gesprochen und allmählich diffundiert etwas gemäßigt Wildes in die Dialoge hinein.
Es ist die Rede vom Klee, und ein Gärtner, gespielt von Annette Paulmann, hat die subversive Idee, täglich „eine Prise Gräser“ auszusäen und damit die Rasen-Ordnung sanft zu unterwandern. Am Ende sind die Gärtner abgetreten und das Gras spricht von Vögeln, Insekten, „Unkräutern“ und anderen „Fremdkörpern“. Die Herkunft dieser melancholischen Stimmen macht man schließlich auf den der Ehrenloge gegenüberliegenden Tribünen aus.
Es sind fünf grüne Gestalten, die von Bienen schwärmen und von der Höhe, die sie – die Gräser – ungestutzt erreichen könnten. Man kann viel hineinlesen in diese putzige, vage an Philippe Quesnes „Farm Fatale“ erinnernde Schlusspassage, worin Vogelscheuchen die Welt retten. Fast die ganze Philosophie einer Ära, in der es immer um Diversität und Öffnung ging.
Doch im Kern ist die „Opening Ceremony“ keine sich selbst feiernde Rückschau, sondern eher ein kleiner, hingefrickelter Gruß an eine vielleicht bessere Zukunft, der dem Spektakel, das es nicht geben durfte, keine Träne hinterherweint. Und der Münchner Himmel macht mit und gibt sogar die Sonne frei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!