piwik no script img

Rechter Bürgermeister in SüdfrankreichUmkämpfte Erinnerung

Der Bürgermeister von Perpignan, Ex-Lebenspartner von Marine Le Pen, möchte sich des Gedenkens an den Philosophen Walter Benjamin bemächtigen.

Der stramme Rechte Louis Aliot wurde zum Bürgermeister von Perpignan gewählt Foto: Jean-Christophe Milhet/afp

Weltweit tobt eine laute, zuweilen etwas lärmig geführte Debatte über Geschichte und Erinnerung. Vor Jahren erschien in Frankreich ein „Fluchtspiel“ mit dem Namen „Port-Bou 1940“. Nahe diesem südfranzösischen Grenzort nahm sich der Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) beim Versuch über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen in der Nacht vom 26. auf den 27. September das Leben. Er war mittel-, ort- und zukunftslos geworden, denn seine verzweifelten Bemühungen um sichere Zufluchtsorte waren alle gescheitert.

Im geschmacklosen „Fluchtspiel“ sollten die Mitspieler die letzten Stationen Benjamins auf seinem Flucht- und Deporta­tions­weg sowie den beschwerlichen Fußweg des Herzkranken über die Berge spielend absolvieren, den die Widerstandskämpferin und Pazifistin Lisa Fittko begleitet und in einem Buch beschrieben hat („Mein Weg über die Pyrenäen“, erschienen 1985).

Vergangenen Sonntag fand in Frankreich der zweite Urnengang zu den Kommunalwahlen statt. In der Stadt Perpignan, keine 50 Kilometer von Port-Bou entfernt, wurde Louis Aliot zum Bürgermeister gewählt. Aliot war der Lebensgefährte von Marine Le Pen, der Vorsitzenden des nationalistisch-rassistischen Rassemblement National (RN) und gilt als Urheber der Strategie der „Entteufelung“ („dédiabolisation“), das heißt, des Versuchs, die Partei vom Image des Rechtsradikalismus zu befreien.

Aliot wurde Wahlsieger – seiner Strategie folgend – in der einzigen Stadt mit über 100.000 Einwohnern nicht als Mitglied des RN, sondern an der Spitze einer parteilosen Liste von Rechten.

Leerstand und Verwahrlosung

In Perpignan gibt es das Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin. Es ist längst geschlossen, denn die Stadt, in der ganze Viertel der Verwahrlosung anheimgefallen sind, ist arm und hat für Kultur kein Geld mehr. Aliot beabsichtigt jedoch, das Zentrum wieder zu öffnen und für Ausstellungen und Tagungen aller Art zugänglich zu machen.

Dass sich ausgerechnet ein strammer Rechter wie Aliot des Namens Walter Benjamin bemächtigt, um mit diesem seine finstere Kulturpolitik zu dekorieren, brachte namhafte französische Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler zu Recht in Rage – darunter Étienne Balibar, Jean-Luc Nancy, Éric Fassin, Michael Löwy und Benjamin Stora.

In einem zornigen offenen Brief erinnern sie an eine alte historische Lektion: „Wenn der Feind triumphiert, werden selbst die Toten nicht in Sicherheit sein. Denn dieser Feind hat nicht aufgehört zu triumphieren.“

Sie fordern deshalb, den Rechten um Bürgermeister Aliot den Namen Walter Benjamins zu entwinden und „vor den Händen all jener zu schützen, die die Geschichte noch einmal mit der Tinte der Unterdrücker von gestern umschreiben, während sie heute Ausländer und Migranten mit allen Mitteln stigmatisieren“.

Moralische Verpflichtung

Die UnterzeichnerInnen des offenen Briefes berufen sich auf ihre politische und moralische Verpflichtung, an das zu erinnern und dessen zu gedenken, was vor 80 Jahren in Port-Bou geschehen ist und darauf mit größter Klarheit und Deutlichkeit zu reagieren.

Sie beziehen sich dabei wörtlich auf den gemeinsamen kämpferischen Slogan von Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Republikanern und Demokraten gegen die faschistischen Truppen von General Franco im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939): „¡No pasarán!“ („Sie werden nicht durchkommen!“) – jene Parole, die der legendären kommunistischen Kämpferin „La Pasionaria“ (Dolores Ibárruri Gómez, 1895–1989) zugeschrieben wird.

Sie sprechen dem rechtsradikalen Bürgermeister damit die Legitimität ab, sich bei der Wiedereröffnung des Kunstzentrums auf Walter Benjamin zu beziehen, eines Opfers brutaler rassistischer und politischer Verfolgung. Eine treffliche Intervention im Handgemenge um Erinnerung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!