Tanztheater-Premiere in Dresden: Alltag im Warteslot
Die Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden wagt sich an die Freiluft: „Veduta – Stadtansichten“ – eine der wenigen Premieren dieser Spielzeit.
Es Fastenbrechen zu nennen, wäre fast euphemistisch. Unterwegs zu einer Premiere in Dresden fühle ich mich eher wie eine Spielverderberin oder gar Verräterin. Es ist einer der ersten Auswärtsaufträge, die seit Beginn der Coronkrise von der Kulturredaktion der taz vergeben werden. Meine erst zweite Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln seit März.
Im Vergleich zum Ostsee-Ausflug am sogenannten Vatertag verläuft die Bahnfahrt unspektakulär. Keine um sich spuckenden, bei offener Klotür pinkelnden Lebewesen, keine wegen Servicemängeln gesperrten Abteile. Vielmehr hat der IC nach Dresden – ein österreichisches Modell – sogar Desinfektionsmittel auf dem Klo. Automatisch öffnende Türen allerdings nicht. Dafür klappt die kontaktfreie Fahrkartenkontrolle dieses Mal.
Aber muss die Fahrt sein? Muss die Premiere sein? Jetzt, da – obwohl die Vorbereitungen für die Herbstpremieren schon auf Hochtouren laufen – doch irgendwie noch die Hoffnung besteht, alles könnte anders werden. Die Hoffnung, das Produzieren im Kunstbereich könnte ganz neu gedacht werden.
Raus aus der Blase
„Wir brauchen eine Ökonomie des Lebens und keine Ökonomie des Mehrwerts!“, forderte Theatermacher Milo Rau unlängst. Andererseits ist es sinnvoll, den Abgleich zu machen und aus der Berliner Blase rauszukommen. Dass die Hilfsmaßnahmen für die Künste im Vergleich der Bundesländer sehr unterschiedlich ausgefallen sind, ist bekannt. Berlin geht es zurzeit verhältnismäßig gut. In Dresden hingegen wurde bereits am 21. April eine Haushaltssperre erlassen. Sie gilt für städtisch finanzierte Kunstprojekte ebenso wie beispielsweise für sämtliche Innovations- und Integrationsprojekte von „Zukunftsstadt Dresden“.
Das Staatsschauspiel, wohin ich zur Premiere von „Veduta – Stadtansichten“ des Berliner Choreografen Sebastian Matthias reise, ist dank der Landesfinanzierung nicht betroffen. Der Titel der Inszenierung lässt an die berühmten „Veduten“ der Malerei denken. In diesem Fall an das Gemälde „Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustbrücke“ von Bernardo Bellotto, entstanden 1748. Matthias’ Stadtansicht verbindet rechtes und linkes Ufer und ist als ausgiebiger Spaziergang zwischen sechs Stationen angelegt.
Wobei „Spaziergang“ in Dresden ein kontaminiertes Wort ist. Unsere Aktivität wird daher „Tanzstreifzug“ genannt. Sie war, um sich von den fremdenfeindlichen Massenaufläufen abzugrenzen, die die Dresdner Kulisse benutzen, von Anfang an nicht im Gruppenverband konzipiert – was „Veduta“ nun wiederum pandemiekompatibel macht.
Dresdner Modell macht Schule
Das Stück, eine der wenigen Tanzinszenierungen, die derzeit in Deutschland live stattfinden, wurde für die Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden erarbeitet. Das Modell der Bürgerbühne, die seit 2009 existiert, wurde vielfach auch von anderen Städten adaptiert.
In Dresden stehen im Jahr fünf Premieren, bei denen Inszenierungsprofis mit Laienschauspieler*innen zusammenarbeiten, im Programm. Die Zahl der Bewerber*innen war auch in diesem Fall wieder hoch. Daneben gibt es mehrere Klubs, die Werkstattaufführungen produzieren, sowie das „Montagscafé“, bei dem sich Menschen solidarisch zum Beisammensein treffen.
Laut Bürgerbühnenleiter Tobias Rausch vermissen die Teilnehmer*innen das Café zurzeit besonders schmerzlich. Seine Existenz gilt ja als Zeichen gegen die jeweils montags stattfindenden fremdenfeindlichen Demonstrationen. Deren Organisatoren haben für heute Abend auf der Website angekündigt, „wieder ohne Teilnehmerbegrenzung und ohne ‚Maullappen‘ auf die Straße“ zu gehen. Und weiter im Ton der Verschwörungstheorien: „Es wird höchste Zeit, sich von der künstlich hinausgezögerten Grippe zu verabschieden...“
Nur mit Maske
Für „Veduta“ gilt, obwohl bei den Eins-zu-eins-Begegnungen unter freiem Himmel der Mindestabstand eingehalten wird, Maskenpflicht. Auch das kann als Zeichen gesehen werden. Man wolle sich seine Agenda aber auch nicht von fremdenfeindlichen Demonstranten bestimmen lassen, sagt Tobias Rausch, der sich damit nicht speziell auf die Maskenthematik bezieht. Die in Dresden sowieso noch eine zusätzliche Dimension hat: Bürgermeister Dirk Hilbert (FDP) hat sich beim Austeilen kostenfreier Masken, das zu Passantenballungen geführt haben soll, eine Strafanzeige eingehandelt. Von links.
Sich unter diesen Umständen frei zu bewegen, scheint unmöglich. Die Stimmung ist gedrückt. Und genau das ist der Grund, warum Choreograf Sebastian Matthias dennoch an seiner Premiere festhielt. Er wolle, wie er mir im Warte-Slot zu einer Station sagt, mit den Laienperformer*innen Handwerkszeug entwickeln, um sich im Stadtraum selbstbestimmt bewegen zu können. Wie reagiert man zum Beispiel, wenn jemand aggressiv in den eigenen Raum eindringt? Wenn jemand beim Proben ungefragt stört? Zum Beispiel mit dem Satz: Das ist keine Kunst.
Am meisten provoziert fühlten sich Passanten durch die Proben an der ersten Station, der einzigen, an der wirklich live (im postmodernen Stil) getanzt wird. Bei der Premiere fällt die fast komplette Ignoranz von Passanten auf dem breiten Trottoir auf. Als könnte man schon durch ein interessiertes Stehenbleiben der Mittäterschaft verdächtigt werden. An den anderen „Veduta“-Stationen in der Fußgängerzone, vor der Frauenkirche und dem Neubau der Synagoge präsentieren sich dem Publikum gesellschaftspolitische Geschichten aus dem Alltag der Spieler*innen, kombiniert mit Handyvideos.
Die Wände hochgehen
Darauf zu sehen sind Tanzsequenzen in pandemiebedingt für den Publikumsverkehr gesperrten Räumen wie dem Arbeitsamt, einem Klub und einem Nobelhotel. Leute, die einander ausweichen, die die Wände hochgehen oder das normale Leben imaginieren. Die Körperspannung der Coronazeit, die Reflexe des Ausweichens, wenn man sich zu nahe kommt. Positiv fällt das unversehrte „Black Lives Matter“-Plakat auf, das gegenüber der Frauenkirche hängt. Die letzte Station findet im Hof der Staatsschauspiel-Spielstätte in der Neustadt statt. Eine Gruppenszene, angelegt als Parcours mit abgegrenzten Einzelfeldern.
Auf einem desinfizierten Handy kann ich mich von oben sehen. Müde tauche ich danach wieder in den disharmonischen Historismus der Altstadt ab. Der Fahrstuhl im Hotel darf von nur „maximal 1 Person“ benutzt werden. Das Frühstück wird in Schichten angeboten. „Veduta“ ist zweifellos eines der Stücke der Stunde. Eines, bei dem ich froh bin, als es zu Ende ist. Trotz Open End.
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