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Bischöfin über den Umgang mit Corona„Der Ton ist nervös und ruppig“

Regionalbischöfin Petra Bahr wurde gerade in den Ethikrat gewählt. Ein Gespräch über schwierige Abwägungen, Boris Palmer und Verschwörungstheorien.

In Corona-Zeiten müssen Interessen neu verhandelt werden: In Dresden wird schon wieder gekickt Foto: Robert Michael/dpa
Anja Maier
Interview von Anja Maier

taz am wochenende: Frau Bahr, Sie sind Religionsphilosophin, Regionalbischöfin für Hannover und gerade in den Deutschen Ethikrat berufen worden. Welche Perspektiven bringen Sie mit?

Petra Bahr: Ich komme aus dem Alltag von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen in Dörfern und kleinen Städten. Dort ist mit Händen zu greifen, dass diese Jahrhundertkrise besonders die trifft, die sowieso schon schwach waren oder im toten Winkel der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Die Hochbetagten, die Kranken und Dementen in Pflegeeinrichtungen. Aber auch Familien, die sich eben nicht mit zwei Tablets hinsetzen können, um ihre Kinder zu Hause zu beschulen, abgesehen davon, dass der Netzempfang viel zu schlecht ist.

Hinter uns liegt eine Woche der Lockerungsforderungen. Boris Palmer von den Grünen hat über Schutzmaßnahmen für ältere Menschen gesagt, da würden möglicherweise „Menschen gerettet, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Wie sehen Sie das?

Boris Palmers Aussage ist zynisch. Ab welchem Lebensalter soll die Frist denn verwirkt sein, bis zu der eine Gesellschaft ihre Alten schützt? Hinzu kommt, dass durch die Pandemie auch jüngere Leute gefährdet sind.

Zuvor hatte sich schon Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu Wort gemeldet. Er sagte, das Recht auf Leben gelte nicht uneingeschränkt und sei daher – anders als die Menschenwürde – nicht das höchste Gut.

Es ist auch in ethischen Fragen nicht ganz gleichgültig, wer spricht, ob es ein gesunder junger Mann ist oder jemand im Alter von Wolfgang Schäuble mit offensichtlich erhöhtem Risiko. Der Bundestagspräsident hat eigentlich nur auf das Grundgesetz hingewiesen. Der Staat kann und soll nicht alle Lebensrisiken ausräumen. Für Unendlichkeit ist er nicht zuständig. Die Würde der Freien und Gleichen kann auch bedeuten, dass Menschen in Würde sterben. Schäuble macht auf falsche Hoffnungen und leichtfertige Versprechungen aufmerksam. Manchmal führt das zu anspruchsvollen Abwägungen. Absoluten Gesundheitsschutz kann es nicht geben, wenn wirtschaftliches Überleben, die Resilienz der Psyche oder Bildungsbiografien nicht kolossalen Schaden nehmen sollen. Entscheidend ist, wie wir trotz der zurückgewonnenen Freiheiten die besonders Gefährdeten schützen, damit nicht sie den Preis für die „neue Normalität“ zahlen.

Sprechen Sie von gegenseitiger Ausgrenzung?

Natürlich gibt es Prioritäten, die eine Gesellschaft setzt, oft ohne Rechen­schaft abzulegen. Wir haben doch, vorsichtig gesagt, alle eine Art Triage im Kopf. Was ist im Zweifel wichtiger? Das muss man offenlegen und diskutieren. Die Menschenwürde ist deswegen so unbedingt, weil sie nicht nur Aussagen über unser aller Leben trifft. Sie nimmt auch die Frage in den Blick, wie wir mit dem Sterben umgehen. Damit hat sich der Ethikrat bereits ausführlich befasst, und es gab kontro­verse und gute Debatten dazu im Deutschen Bundestag. Es ist ja nicht so, dass uns erst in Zeiten der Pandemie die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt wird. Wenn es hier überhaupt eine Botschaft gibt, dann die, auf absehbare Zeit mit radikaler Ungewissheit leben zu ­müssen.

Gesundheitspolitik war noch nie darauf ausgerichtet, uneingeschränkt das Leben aller zu retten. Woher rührt dieser mitunter beinahe kindliche Anspruch gegenüber dem Staat auf Schutz und Freiheit zugleich?

In der Tat muss der Staat Strukturen schaffen, um möglichst alle Leben zu retten. Gleichzeitig kann er das individuelle Lebensrisiko nicht aufheben. Der Staat kann nicht viel dagegen tun, wenn ich von der Leiter falle oder beim Skifahren verunglücke. Trotzdem ist es richtig, große Ressourcen zu mobilisieren, damit möglichst viele Menschen gut und lange leben können. Zu einem anspruchsvollen Verständnis von Gesundheit gehört allerdings mehr als körperliches Wohlergehen. Auch psychische Stabilität ist für eine Gesellschaft wichtig.

Im Interview: Petra Bahr

Die 54-Jährige ist Regionalbischöfin der Landeskirche Hannovers und neu gewähltes Mitglied im Deutschen Ethikrat. Der unabhängige Sachverständigenrat berät die Bundesregierung und das Parlament in ethischen Fragen und gibt Empfehlungen zu Themen wie Impfpflicht, Datensouveränität oder Organspende. Bahr ist für vier Jahre gewählt. Die Theologin war von 2006 bis 2014 Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche und anschließend bis 2017 Abteilungsleiterin Politik und Beratung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie nimmt oft Stellung zu religiösen und ethischen Fragen und twittert als @bellabahr.

Erwartet dieses Land eine Welle des Kummers?

Ja. An Telefonen und in Briefen ist diese Welle schon da. Nach dem Schock gibt es jetzt parallel eine Phase der Verdrängung und der Trauer bei denen, die jetzt schon viel verloren haben. Bei anderen ist der Kummer noch stumm. Aus der Seelsorge weiß ich aber, dass existenzielle Ängste zunehmen. Die Unsicherheit bei Soloselbstständigen, Unternehmern, bei Künstlern. Diese Gefährdung muss der Staat jetzt in den Blick nehmen. Aber auch die Gesellschaft kann viel tun. Zu Beginn der Pandemie gab es eine Welle der Zugewandtheit. Die verschwindet jetzt in der Konkurrenz der Forderungen. Der Ton ist laut, nervös und ruppig. Hinter dem verständlichen Lobbyismus starker Kräfte bleiben die leiseren Anliegen vermutlich ungehört. Die Bundesliga hat einfach anderen Einfluss als alleinerziehende Mütter mit zwei Kindern.

Geht es um die Frage nach Geld oder Leben?

Es geht in der Tat um sehr viel Geld. Massiver Steuerausfall, Rezession, das heimliche Sterben ganzer Kulturbereiche. Es geht aber nicht nur um Arbeitsplätze, um Zukunftschancen. Es geht auch um die Frage: Wie wollen wir denn in Zukunft leben, wirtschaften, mobil sein, lernen? Deshalb ist diese Gegenüberstellung „Geld oder Leben“ für einen Westerndialog super, aber für die Beschreibung der Lebenswirklichkeit ungeeignet. Die Frage ist doch eher: Was machen wir, wenn das Geld knapper wird? Ist das schnelle Zurück zu dem Zustand vor der Krise wirklich eine so gute Idee? Wir müssen über intelligente Innovationen und Transforma­tionen streiten. In meiner Kirche diskutieren wir das kontrovers.

Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, befürchtet, dass Frauen aufgrund der ökonomischen Folgen der Pandemie „eine entsetzliche Retraditionalisierung“erfahren werden. Wie sehen Sie das?

Es ist zu früh, das zu sagen. Ihre Beobachtungen teile ich aber. In den systemrelevanten Bereichen wie Pflege, Handel, Dienstleistungen arbeiten viel mehr Frauen. Sie sind da entweder mehr denn je gefordert oder verlieren am schnellsten ihre Jobs. Dazu oft Küchenschule und Wohnzimmerkita. Da steigt der psychische Druck, alles trotzdem richtig machen zu müssen. Geteilte Sorgearbeit ist immer noch die Ausnahme, wenn es ernst wird.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sie sind viel auf Twitter unterwegs und diskutieren dort. Was sagen Sie Leuten, die aus dem momentanen Eingriff in ihre Grundrechte eine persönliche Widerstandspflicht gegen den Staat ableiten?

Öffentlich die drastischen Einschnitte in die Grundrechte zu thematisieren ist nachgerade Bürgerinnenpflicht. Die Frage ist aber, wie das geschieht! Daraus eine Analogie zum Nationalsozialismus abzuleiten, von „Virologendiktatur“ oder Ähnlichem zu schwadronieren finde ich unerträglich geschichtsvergessen. Mich beunruhigt, wie schnell kluge Menschen übelsten Verschwörungstheorien aufsitzen, oft verbunden mit offensivem Antisemitismus. Da inszenieren sich die einen als widerspenstige Untertanen, die anderen als die neue, wahre Zivilgesellschaft. Das ist viel gefährlicher als die Beschwörung von „Deutschtum und Volk“, weil so auch Leute aus dem eher linken Spektrum für diese Art von Aufstandsfolklore anfällig werden. Mündige Bürger:innen sind aber in der Lage, die Einschränkungen und ihre Gründe kritisch zu reflektieren. Die Frage der Angemessenheit muss weiterhin diskutiert werden – aber klug und abwägend.

Ist diese Entwicklung ein Thema für den Ethikrat?

Der neue Ethikrat hat sich noch nicht konstituiert. Dass der Ethikbedarf, das ruhige, interdisziplinäre Abwägen und Klären von Argumenten, in den kommenden Monaten wichtig bleibt, zeigen schon die schattenöffentlichen Diskussionen über den sogenannten Immunitätspass. Es wird schnell schrill und laut. Die Unterstellung einer staatlichen Impfpflicht wird bei Demos mit dem Tragen des gelben Sterns in Zusammenhang gebracht. Das ist eine teuflische Aneignung der Schoah. Der Ethikrat hat für mich die Funktion zeitnaher Beratung, aber auch der Differenzierung, wo einfache Lösungen wie Heilsbotschaften erscheinen und gehetzte Entscheidungen ungeahnte Nebenfolgen haben könnten.

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