Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus
Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt.
Scharfe Kritik hat die Einladung von Achille Mbembe als Eröffnungsredner der nun abgesagten Ruhrtriennale nach sich gezogen. Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter des Bundes, wirft dem kamerunischen Historiker Holocaust-Relativierung vor; eine Kritik, der sich FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube später anschloss. In Mbembes „Politik der Feindschaft“ finden sich Zitate, die die israelische Palästinenserpolitik mit der Apartheid Südafrikas vergleichen.
Außerdem zieht er das Prinzip „Auge um Auge“ aus dem Alten Testament als Ursprung der „Zerstörungsideologien“ auf der Welt heran – und macht damit wieder das Judentum verantwortlich für alles Unheil. Mbembe selbst wies in der Zeit die Vorwürfe mit leichter Hand zurück: Er verspüre „nicht die Spur von Groll oder Vorurteil gegen irgendjemanden“. Auffällig oft hebt er hervor, wie sehr seine Schriften von jüdischen Denkern beeinflusst seien, um schließlich einzuräumen, dass seine Forschung sich nicht mit dem Holocaust beschäftige, ebenso wenig „mit Israel […] noch mit seinem Recht auf Existenz und Sicherheit“.
Nimmt man ihm die jüdischen Kronzeugen (à la „viele meiner Freunde sind Ausländer“) noch ab, fragt man nach der Basis seiner Fundamentalkritik an Israel, die im selben Satz ihren kompletten Mangel an Expertise eingesteht – ganz unabhängig davon, ob das Existenzrecht von Staaten überhaupt Gegenstand seriöser Forschung sein kann.
Causa Mbembe zeigt ein tieferliegendes Problem
Ohne Zweifel verdient die aktuelle israelische Regierungspolitik scharfen Widerspruch, auch viele Israelis folgen ihr nurmehr mit Verzweiflung. „Israelkritik“ vom Zuschnitt Mbembes entspringt jedoch gänzlich anderen Bedürfnissen: Für sie ist nicht die israelische Politik von Scharon bis Netanjahu das Problem, sondern die schiere Existenz des Judenstaats. Die Causa Mbembe weist daher auf ein tieferliegendes Problem hin, ein Problem jenes Teils der Rassismus- und Kolonialismusforschung, der sich den Postcolonial Studies verpflichtet fühlt: ihre Unfähigkeit, Antisemitismus als Problem ernst zu nehmen. Dieser wird dort ganz überwiegend als „nur eine andere Form von Rassismus“ verstanden – während durch die fortgesetzte, völlig unreflektierte Dämonisierung Israels antisemitische Denkstrukturen reproduziert werden.
Niemand leugnet die Verdienste postkolonialer Forschung. Dank Theoretikern von Frantz Fanon über Gayatri Spivak und Edward Said bis Achille Mbembe ist das Nach- und Hineinwirken der Kolonialgeschichte in die Struktur und den Alltag unserer Gesellschaft erforscht worden: Deutsche Straßen, mit denen Sklavenhändler geehrt werden; der Unwille, den Völkermord an den Herero und Name anzuerkennen (oder auch nur das N-Wort aus Kinderbüchern zu streichen); eine deutsche Drogeriekette, die Afrohaare als „Wucherfrisur“ bezeichnet – Mbembe nennt diese Form von Rassismus treffend „Nanorassismus“, den „ganz banalen Rassismus, dem es gelungen ist, sich allenthalben auszubreiten und in alle Poren und Adern der Gesellschaft einzudringen“.
In Zeiten, in denen rassistisches und rechtes Gedankengut tödliche Ausmaße annimmt, sind Analysen, die die koloniale Herkunft dieser Bilder reflektieren, von ungebrochener Brisanz.
Doch ebenso, wie Rassismus auch da benannt werden muss, wo er nicht offensichtlich ist, muss Antisemitismus angesprochen werden, wenn er sich unter geehrten postkolonialen Theoretikern artikuliert. Erinnert sei an eine andere deutsche Ehrung 2012, als die postkolonial inspirierte Gender-Forscherin Judith Butler den Adorno-Preis erhielt. Butler, selbst Jüdin, ist bekannt für ihr Engagement in der Israel-Boykottbewegung BDS; unter anderem nannte sie die islamistische Hamas aufgrund ihres erklärten Antiimperialismus einen „Teil der globalen Linken“. Ein Preis, benannt nach einem der bedeutendsten Antisemitismuskritiker, in den Händen eines Hamas-Fans?
Parteinahme gegen Israel
In den Postcolonial Studies scheint die einseitige Parteinahme gegen Israel so normal, dass auch absurde Positionen als legitim gelten. So fühlt Mbembe mit palästinensischen Selbstmordattentätern mit: „Der Märtyrer in spe sucht nach einem glücklichen Leben.“ Jeder Anschlag mit „einigen Toten“, so Mbembe, führe „automatisch zu einer Trauer, die sich wie auf Befehl einstellt“.
Gayatri Spivak definiert Israel als „Kolonialstaat“, sieht „in Palästina“ nur „territorialen Imperialismus und Staatsterrorismus alter Prägung“ am Werk – und zeigt ebenfalls Verständnis für Selbstmordattentate, denen sie das emanzipatorische Ansinnen unterstellt, „Normalität kollektiv verändern“ zu wollen. Edward Said, selbst palästinensischer Herkunft, lehnte das Osloer Friedensabkommen kategorisch ab und unterstellte Israel, die Palästinenser als Volk („people“) auslöschen zu wollen.
Allen diesen Forschern ist gemein, dass sie die Gründung Israels als Kolonialprojekt bewerten – und oft mindestens Verständnis für Selbstmordattentate zeigen. Bei derart kritischen Geistern, die selbst unbedachte Alltagsäußerungen auf ihr mikroaggressives Potenzial analysieren, muss zunächst einmal ganz grundsätzlich auffallen, wie freimütig sie tödliche Aggression gegen schutzlose Zivilisten – in diesem Fall Juden – ohne großes Wenn und Aber rechtfertigen. Liegt dies an einem grundsätzlichen Konstruktionsfehler der Postcolonial Studies? Die meisten ihrer Theoretiker verstehen sie nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Widerstandsform. Gegenwärtige Formen von Hegemonie und Abhängigkeiten werden als Neokolonialismus kritisiert.
Erzwungene Identitäten
Gründungsvater Fanon warnte noch vor „essenzialisierendem Denken“, das die koloniale Weltordnung überhaupt erst hervorgebracht habe und auch nach ihrer Aufhebung weiterwirke: Postkoloniale Gesellschaften sollten sich daher nicht positiv auf ihre von den alten Herren erzwungene Identität beziehen, sondern eine völlig neue, emanzipierte Identität hervorbringen.
Gegenwärtige Postcolonial Studies sind davon jedoch oft weit entfernt: Eine manichäische Spaltung der Welt in einen „globalen Norden“ und einen „globalen Süden“, in Unterdrücker und Unterdrückte, reduziert die komplexe Weltlage auf einfache binäre Widersprüche, in denen es nichts Drittes, nichts Ambivalentes geben darf. Israel wird dabei umstandslos den Unterdrückern zugeschlagen; nicht ein Gedanke wird darauf verwendet, dass die Gründung des Staates auf jahrhundertelange Verfolgung, von den Pogromen in Russland und Polen bis zur Schoah zurückzuführen ist. Jüdische Flüchtlinge und Überlebende steigen in dieser Lesart zu mächtigen Kolonialherren auf; die Gründung des Staats wird als Geburtsstunde der „neokolonialen Ära“ verstanden.
Es ist kein Zufall, dass im Intersektionalitätskonzept der Postcolonial Studies Antisemitismus oft nur als eine Unterform des Rassismus gilt. Das Einzigartige am Antisemitismus findet sich in keiner Darstellung der Postcolonial Studies, widerspricht er doch der binären Aufteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte.
Antisemitismusvorwurf wird beiseitegewischt
Im Gegensatz zum Rassismus geht Antisemitismus nicht von der Minderwertigkeit bestimmter Personengruppen aus, sondern umgekehrt von ihrer Überlegenheit, ihrer Macht und Schläue. Der Antisemit sieht sich gerade selbst als Opfer, nämlich einer Unterdrückung durch Juden; er glaubt sich in einer Position der Schwäche und hält sein Handeln für Notwehr. Theorien, die Antisemitismus lediglich als Diskriminierung aufgrund „jüdischer“ Merkmale betrachten, müssen daran ebenso scheitern wie solche, die sich unterdrückt wähnende Personengruppen automatisch im Recht wissen.
In einem Milieu, in dem es gute Sitte geworden ist, zunächst einmal Betroffenen Glauben zu schenken, alle Vorwürfe von Diskriminierung zunächst einmal ernst zu nehmen, wird oft mit aberwitziger Schnelle der „Antisemitismusvorwurf“ als „Vorwand“ beiseitegewischt. Es ist dann mehr als nur bezeichnend, dass solche Argumente in einer deutschen Gesellschaft dankbar angenommen werden, die die Aufarbeitung der Vergangenheit als abgeschlossen sieht und sich keine weiteren Fragen mehr gefallen lassen möchte, sondern vielmehr dem Staat der Verfolgten Moralpredigten hält.
Wollen sich postkoloniale Theoretiker nicht von solchen sehr deutschen Bedürfnissen instrumentalisieren lassen, müssen sie einen Begriff von Antisemitismus bilden, der über eine Variation von Rassismus hinausreicht, ihn genuin gesellschaftstheoretisch definiert und aus wohlfeilen binären Aufteilungen der Welt in Gut und Böse heraushält. Überdies muss endlich anerkannt werden, dass „Israelkritik“ allzu oft ein Ventil für solche Ressentiments darstellt – weit entfernt von legitimer Empörung über aktuelles israelisches Regierungshandeln.
Wenn es den postkolonialen Wissenschaften nicht gelingt, diesen überkommenen Essenzialismus aufzugeben, machen sie sich tatsächlich zum zweiten Mal abhängig von Ex-Kolonialherren. Tatsächlich wäre wenig vorstellbar, was so kolonial wäre wie deutsche Israelfeinde, die sich zur Legitimation ihrer Abneigung Schützenhilfe aus Südafrika einfliegen lassen. Auch in dieser Hinsicht wäre eine Dekolonisierung der Debatte dringend geboten.
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