Corona in Ägypten: Es geht ums nackte Überleben
Trotz Corona-Staatshilfe: Rikscha-Fahrer und andere informell Beschäftigte in Ägypten können nicht zu Hause bleiben, wenn sie überleben wollen.
Doch mit einer wachsenden Zahl von Covid-19-Fällen und rund hundert offiziell registrierten Todesfällen stellt sich die Frage, warum die Behörden das Leben nicht auch tagsüber anhalten.
Die Antwort liegt in den vielen Ägyptern, die als Tagelöhner im informellen Sektor arbeiten. Ahmad ist ein Tuktukfahrer, ein Motorrikscha-Fahrer, wie es sie in Kairo zu vielen Tausenden gibt. „Meine Einnahmen sind um die Hälfte eingebrochen. Die Menschen haben wegen Corona Angst, aus dem Haus zu gehen“, erzählt er. „Es gibt jeden Tag mehr Fälle, man sollte eigentlich zuhause bleiben, aber wie, wenn so viele Ägypter wie ich Tagelöhner sind?“
Aufzuhören zu arbeiten, daran sei für ihn gar nicht zu denken. „Ich persönlich kann es mir nicht leisten, zwei oder drei Wochen zu Hause zu bleiben. Ich muss meine Familie ernähren. Ich habe einen schwerkranken Vater. Wie soll ich das hinkriegen?“, sagt Ahmad.
Tagelöhner aus dem Umland
Ahmad ist kein Einzelfall. „Ich habe viele Menschen interviewt, die sinngemäß sagen: Lieber sterben wir an Corona als an Hunger“, erzählt die ägyptische Wirtschaftsjournalistin Amira Gad. Sie selbst kenne eine Putzfrau, die am Anfang zu Hause geblieben sei, aber nach zwei Wochen sei ihr das Geld ausgegangen. Also gehe sie jetzt doch wieder arbeiten, schließlich müsse sie eine sechsköpfige Familie ernähren.
Die Tagelöhner, die aus der Umgebung Kairos kommen, treffe es besonders hart, sagt die Wirtschaftsjournalistin. „Es gibt viele Arbeiter, die kommen jeden Tag vom Land in die Stadt und versammeln sich auf den größeren Plätzen. Ihr einziges Kapital sind Hammer und Meißel. Sie warten, dass jemand kommt und sie auf dem Bau oder für andere Arbeiten einspannt“, schildert Gad. In den letzten Wochen warteten sie immer öfter vergeblich.
Keiner weiß genau, wie groß dieser informelle Sektor in Ägypten ist, in dem sich Menschen ohne Arbeitsverträge, Kranken- oder Pensionsversicherung mit unsicheren, pro Tag ausgezahlten Löhnen durchs Leben schlagen. „Das eigentliche Problem ist, dass diese Arbeiter in keiner Datenbank erfasst sind. Wir wissen nichts über sie, wo sie leben und unter welchen Umständen, sie existieren offiziell gar nicht“, erläutert Gad.
Die Schätzungen gehen weit auseinander. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass der informelle Sektor 63 Prozent der ägyptischen Arbeitskräfte beschäftigt. Das ägyptische Bundesamt für Statistik (Campas) geht davon aus, dass 20 Prozent der Arbeiterschaft im informellen Sektor tätig sind, wie das ägyptische Nachrichtenportal Youm Sabaa berichtet.
Der Sprecher des Arbeitsministeriums, Haitham Saad Eddin, hatte bereits Ende März angekündigt, dass Arbeiter im informellen Sektor eine einmalige Bonuszahlung von umgerechnet 25 Euro über die ägyptischen Postämter erhalten könnten, um die Ausfälle in der Corona-Krise zu mildern. Dafür müssten sie sich – viele von ihnen Analphabeten – aber online registrieren, sagt Gad.
Die ägyptische Regierung hofft, auf diese Weise auch erstmals eine Datenbank über die informellen Arbeiter zu erhalten. Laut der staatlichen Tageszeitung Al-Ahram haben sich bislang allerdings nur 1,5 Millionen Menschen für diese Zahlungen angemeldet – offensichtlich ein Bruchteil der Arbeitskräfte im informellen Sektor.
Schärfere Maßnahmen kaum möglich
Zusätzlich zu den einmaligen Bonuszahlungen seien die Kreditraten wegen der Corona-Krise vorläufig ausgesetzt worden, erzählt Gad. Das komme beispielsweise den Tuktuk-Fahrern zu Gute, die ihre Fahrzeuge meist auf Raten gekauft hätten, die sie dann mit ihren täglichen Einnahmen abstottern würden.
Wegen der steigenden Covid-19-Fälle denken die Behörden in Ägypten inzwischen über schärfere Maßnahmen nach. Die Ausgangsperre könnte wie in Saudi-Arabien schon um drei Uhr nachtmittags beginnen. Noch strengere Maßnahmen – etwa die Vorschrift, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben – sind aber wohl nur schwer durchsetzbar. Mit vielen Millionen Menschen, die buchstäblich von der Hand in den Mund leben, ginge es schnell ums nackte Überleben.
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