: Lotsin durch museale Untiefen
Eigene Standards hinterfragen und ein neues Publikum gewinnen: Laura Hartmann ist Museumslotsin für „diversitätssensible Vermittlung“ am Museumsquartier Osnabrück
Von Harff-Peter Schönherr
Nur wenige Karikaturen sind so bekannt wie „Der Lotse geht von Bord“ von John Tenniel. 1890 im britischen Satiremagazin „Punch“ erschienen, zeigt sie einen gefrusteten Otto von Bismarck, schon fast ganz unten am Fuß des Fallreeps, und ein selbstzufriedener Kaiser Wilhelm II. blickt ihm nach, von der Reling herab, von ganz hoch oben. Bismarck, der entmachtete Reichskanzler, tritt ab, in die Versenkung.
Gottlob wissen alle wahren Kapitäne es besser als der flottenverliebte Monarch in Tenniels Zeichnung: Ein Lotse, der unzufrieden von Bord geht, bedeutet Ärger.
Nils-Arne Kässens, Direktor des Museumsquartiers Osnabrück, der gern seine maritimen Wurzeln betont, seine Liebe für die Weite der See, ist ein Kapitän, der Lotsen zu schätzen weiß. Deshalb hat er Ende 2019 Laura Hartmann an Bord geholt, als „Museumslotsin“, für ein zweijähriges Pilotprojekt, ein Novum in der deutschen Museumslandschaft. Die Untiefe, die Hartmann Kässens umschiffen hilft, heißt, in bester Verwaltungsverklausulierung: „diversitätssensible Vermittlung“.
Was das ist, muss Laura Hartmann sicher oft erklären? „Stimmt“, lacht sie. „Aber das ist eigentlich gar nicht so schwer.“ Sie sagt dann Sachen wie „Museum für viele“, wie „Dialog mit allen Teilen der Gesellschaft“, wie „aktiv und innovativ Veränderungen stattfinden lassen“, wie „die hohen Mauern durchbrechen, von denen viele noch immer denken, dass jedes Museum sie hat“, oder „bereit sein, eigene Standards zu hinterfragen“. Sie sagt auch Sachen wie „rassismuskritisch und antidiskriminierend“. Und dass wir alle „hybrid“ sind, „mit fluiden Grenzen“. Wer an Mehrheitsgesellschaften glaubt, erntet ihre Skepsis: „Nach und nach wird es keine mehr geben.“
Hartmann tritt an, neues Publikum auf das Radar des Museumsquartiers zu holen. Das zeigt: Die Zeit, in der seine Vernissagen Refugien der Bildungsbürgerlichkeit waren, saturiert und gesetzt, westlich und weiß, eurozentristisch und elitär, ist endgültig vorbei. Hartmann will „das Museum in die Stadt und die Stadt ins Museum bringen“.
Eines ihrer Ziele dabei: „Positionen sichtbar zu machen, die bisher marginalisiert sind.“ Das reicht bis zur Ausstellungsgestaltung, bis zur Exponatauswahl: „Zum Beispiel, wenn wir Stadtgeschichte darstellen. Da müssen wir uns natürlich fragen: Was und wer ist da vertreten, was und wer nicht?“ Pause. Dann, wie eine Mahnung: „Stadt ist divers, Stadt ist migrantisch, Stadt ist heterogen.“
Adjektive zu finden, die sie beschreiben, fällt Hartmann nicht schwer: „Zielstrebig“, sagt sie, gleich als erstes, dann „strukturiert“ und „verantwortungsbewusst“. „Empathisch“ folgt nach einem Moment des Innehaltens, „aufgeschlossen“ und „neugierig“. Am Schluss, aber trotzdem mit Nachdruck: „Und lustig, manchmal.“ Und dass es „superwichtig ist, sich selbst zu reflektieren“, sagt sie auch.
Laura Hartmann beim Argumentieren zu erleben, macht Spaß. Fast ist es ein bisschen wie bei Winston Wolfe, der in Tarantinos „Pulp Fiction“ Jules und Vincent rettet: „I think fast, I talk fast and I need you guys to act fast if you wanna get out of this.“ Mitschreiben ist ein Ding der Unmöglichkeit; Diktaphone sind angesagt.
Die neue Lotsin ist gut in Netzwerkarbeit. Und sie ist gut in Zeitmanagement. Dass ihre Masterarbeit noch gar nicht fertig war, als sie an Bord kam, in Internationaler Migration und Interkulturellen Beziehungen, an der Universität Osnabrück? Kein Problem. Fast klingt es so, als machen ihr solche „Hardcorephasen“ Freude.
Überhaupt hat Laura Hartmann schon erstaunlich viel gemacht, in ihrem jungen Leben. Nach der Schule Europäischer Freiwilligendienst für eine NGO in Iasi, Rumänien. Zweifachbachelor in Oldenburg, eine Kombination aus Soziologie und Genderstudies. Auslandssemester in Istanbul. Reisen nach Neuseeland, nach Indonesien. Dazwischen soziokulturelle Ehrenamts-Projekte wie die „One World Sessions“, ebenfalls in Osnabrück, ein Treffpunkt für Musikerinnen und Musiker verschiedener Länder und Kulturen.
Und dann liest sie dieses Wort: „Museumslotsin“. Denkt: „Spannender Ansatz! Vereint alles, was mich interessiert!“ Bewirbt sich. Setzt sich durch, gegen 70 Konkurrenten. Und jetzt ist ihr Büro „megaherrschaftlich“ und „genau der Altbau, von dem man als Student immer träumt“, mit hohen Wänden, Kassettentüren, Flügelfenstern, Steinfußboden.
Das hat allerdings seinen Preis: Die „Villa Schlikker“, 1901 gebaut als Kaufmanns-Wohnsitz, heute einer der vier Gebäudeteile des „Quartiers“, war ab 1932 der Sitz der Kreisleitung der NSDAP. „Besonders unser Keller“, sagt Hartmann, „ist schon ziemlich gruselig“. Außerdem wird die Villa bald saniert – und zu einem „Friedenslabor“ umgerüstet. Dann muss Laura Hartmann umziehen. Wohin weiß sie noch nicht.
Vielleicht ja in den Extremkontrast nebenan, die dekonstruktivistische Kühnheit der Skulpturalarchitektur des Felix-Nussbaum-Hauses von Daniel Libeskind. Kein großer Umzug. „Ist ja fast so nahe, dass ein Dosentelefon reicht.“
Leider bremst das Coronavirus Laura Hartmann gerade ziemlich aus. „Eigentlich wollten wir jetzt so richtig loslegen.“ Aber Arbeit gibt es natürlich trotzdem genug. Zum Beispiel an dem Partizipations-Projekt „Ausblicke“ des performativen Berliner Künstlers Nasan Tur (taz berichtete: „Deutschland, ein Horrorfilm“, 5. 1.): Exilanten erzählen ihre Geschichten, lassen Tur fotografieren, was sie von ihrem Fenster aus sehen: ein Deutschland, in dem Platz ist für Menschen aller Art. Das erste Treffen, wenige Tage vor Corona, mit 40 Migranten, von Somalia bis Afghanistan, war eine Begegnung großer Offenheit. „Vertrauensarbeit“, sagt Hartmann dazu, „Beziehungsarbeit“.
Eine Arbeit, die gerade in Tagen doppelt wichtig ist, in denen die Bundesregierung Flüchtlinge, für die in Deutschland reichlich Platz wäre, auch in Zeiten von Corona, an den Grenzen der EU leiden und sterben lässt, weil sie fürchtet, die rechtspopulistischen Hetzer um Faschist Björn Höcke könnten sonst Stimmen gewinnen. Hoffen wir also, dass Hartmann nach zwei Jahren nicht wieder von Bord gehen muss. Aber selbst wenn es so wäre: Gefrustet wäre sie nicht.
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