Finnlands Vorteile in Seuchenzeiten: Die Entschleunigten
Von den Finn*innen kann man derzeit viel lernen: Im dünn besiedelten Land hält man auch ohne Shutdown lieber Abstand voneinander.
Vor langer Zeit hatte ich einmal Russisch belegt, auch dies eine schöne und so schwierig zu erlernende Sprache. Hier war es sicherlich mein Migrationshintergrund in etwa fünfter Generation, der mich auf die Suche nach der sprichwörtlich russischen oder allgemein: slawischen Seele, auch in meinem Inneren, schickte.
Ich lernte von der slawophilen Dozentin so manches über das angeborene Talent russischer Männer zum Improvisieren, Basteln und Reparieren selbst irreparabelster Gebrechen. Oder über eine kollektiv verinnerlichte, dissidente Subsistenzwirtschaft auf der Datscha: Alles Fähigkeiten, die nicht nur in Krisensituationen ja nicht zu unterschätzen wären. Und diese fantastische Literatur von Turgenjew bis Strugatzki, die Filme von Tarkowski – sie leisten das Übrige, die Unbilden des Alltags vergessen zu machen.
Nun also Finnland und die Finn*innen. Auch sie umweht die Aura eines ausgeprägten Nationalcharakters, sie gelten als introvertiert, wortkarg, verschlossen, verkörpern alles andere als einen Ausbund explosiver Lebensfreude, wie man sie aus mediterranen Regionen zu kennen meint.
Weltmeister im Kaffeekonsum
Das scheue Völkchen von 5,5 Millionen Einwohner*innen verteilt sich auf eine Fläche, die fast so groß ist wie die deutsche Bundesrepublik, in der allerdings ja über 82 Millionen Menschen leben. Etwa 40 Nationalparks und reichlich weitere unberührte Natur zeichnen das dünn besiedelte Land aus. Zudem viele Seen, deren Ufer besetzt sind mit der finnischen Variante der Datscha, dem Sommerhäuschen, oft mit Sauna, Mökki geheißen.
Eine Novellierung der Verfassung garantiert den finnischen Bürger*innen seit 1998 zudem das Recht auf eine gut gebaute Umwelt, die Landeshauptstadt Helsinki konzentriert in ihrem als Design District bezeichneten Stadtteil eine beängstigende Menge an Läden und Studios zu Interieurgestaltung, Wohnbedarf und Krimkrams.
Die Finn*innen sind Weltmeister im Kaffeekonsum, sie verbrauchen mehr als doppelt so viel Rohkaffee wie die Italiener*innen, sie trinken ihn nicht tassen- sondern gleich kannenweise. Und auch ihr Alkoholumsatz ist trotz restriktiven Handels nicht von schlechten Eltern.
Womit schon abgründige Facetten der finnischen Seele angesprochen sein mögen, die nicht nur die Kaurismäki-Brüder in ihren Filmen mit lakonischem Witz aufs Korn nehmen.
Auch die Grafikerin Karoliina Korhonen beschäftigt seit 2016 das ausgeprägte Bedürfnis der Finn*innen nach größtmöglicher sozialer Distanz in einer maximal entschleunigten Lebensweise. Ihr Protagonist Matti durchleidet tagtäglich die Alpträume eines typisch finnischen Menschen, etwa wenn bei strömendem Regen schon eine Person im Buswartehäuschen steht, es somit „besetzt“ ist.
Und wenn jemand sich dennoch untypisch verhält, fragt sich Matti, was er gerade falsch gemacht habe. Korhonens mittlerweile zwei Bände „Suomalaisten painajaisia“ − englisch: „Finnish Nightmares“ (Ten Speed Press 2019, 96 S., 11,39 Euro, E-Book 6,67 Euro) − illustrieren die schlimmste Angst der Finn*innen: die menschliche Interaktion. Aber: In Coronazeiten zeigt diese Sozialphobie nun ihre Überlegenheit: Lediglich 294 bestätigte Infektionen gab es in Finnland bis Dienstagmittag.
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