piwik no script img

Ein WM-Tor im Hinterhof

Schriftsteller Günter Grass war Fußballfan. Seinen Blick auf Kommerzialisierung, Frauenfußball und die Meilensteine des deutschen Fußballs soll eine Ausstellung in Lübeck zeigen, wenn Corona eingedämmt ist

Von Friederike Grabitz

In einem Hinterhof in der Lübecker Altstadt steht das weiße WM-Tor, in dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Halbfinale 2014 gegen Brasilien sieben Mal den Ball platzierte. Die neue Ausstellung im Lübecker Günter-Grass-Haus führt zuerst durch dieses Tor.

Normalerweise lockt das kleine Museum vor allem Büchernerds an. „Günter Grass: Mein Fußballjahrhundert“ soll die gläserne Grenze zwischen Sport und Literatur durchbrechen und erzählt aus der Perspektive des Literaten ein Stück Fußball-Geschichte.

Günter Grass fieberte mit, wenn der FC St. Pauli oder der SC Freiburg spielten. Seine Leidenschaft verarbeitete er vor allem in seinem Spätwerk „Mein Jahrhundert“, in dem er jedes Jahr des 20. Jahrhunderts in einem Ereignis erzählt. Aus diesem Werk hat Kurator Philipp Bürger „drei große Zeitpunkte des Fußballs“ ausgewählt.

Der Erste: 1903. Damals fand das erste Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft statt. Der VfB Leipzig errang den Titel, Vizemeister wurde der DFB Prag (damals Teil Österreich-Ungarns). Da germanisierte der frisch gegründete DFB gerade den Fußball, der bis dato mit englischen Begriffen gearbeitet hatte: Aus der „Halftime“ wurde die „Halbzeit“.

Der Zweite: „Das Wunder von Bern“ im Jahr 1954. Die deutsche Mannschaft gewann damals überraschend ihren ersten WM-Titel. Kapitän Fritz Walter war im Krieg durch sein Talent als Fußballer Gefechten und der Deportation nach Sibirien entkommen. In den 50er-Jahren erlebte er mit dem Aufstieg von Adidas und Puma die Kommerzialisierung des Fußballs.

Der Dritte: 1974 spielte im Vorrunden-Endspiel der WM Deutschland gegen Deutschland, die BRD gegen die DDR. Nach dem Spiel gaben die Spieler beider Nationalteams ihre Trikots als Souvenirs in die gegnerische Kabine. Davon zeugen in der Ausstellung die Shirts von Uli Hoeneß und Hans-Jürgen Kreische. Die DDR hatte als Sieger Grass'volle Sympathie: Er hielt zu den Underdogs.

1989 kritisierte Grass die Wiedervereinigung als „Einverleibung“. Für den Fußball galt das ohne Abstriche: „Es gab Transfers der ostdeutschen Talente Richtung Westen, umgekehrt nicht“, sagt Museumsleiter Jörg-Philipp Thomsa. Grass'Sympathie galt auch den Fußballerinnen, denen in der Ausstellung eine Themenwand gewidmet ist. Davor steht das Tafelservice, das die Nationalspielerinnen statt einer Geldprämie für ihren EM-Sieg 1989 bekamen – als starkes Symbol antifeministischer Zuschreibung durch den DFB.

Die fünf Themenräume überfordern den nicht sehr großen Saal, in dem das Haus seine Sonderausstellungen zeigt. Doch ohnehin werden sich hier bis auf Weiteres keine Besucher drängeln. Schon vor der Eröffnung wurde die Ausstellung Corona-bedingt auf Eis gelegt. Es ist also fraglich, wann die Öffentlichkeit durch das WM-Tor treten darf.

Günter Grass: Mein Fußball-Jahrhundert. 16.-30. 8. im Günter-Grass-Haus Lübeck, Glockengießerstr. 21. Bis auf Weiteres geschlossen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen