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Vom Verschwinden

Die Schinkel-Pavillon-Performance-Reihe „Disappearing Berlin“ ist keineswegs nur Abgesang, sondern produziert neue Erzählungen davon, wie man sich einen Raum nimmt und dort etwas macht, für einen Tag oder eine Nacht

Von Dominikus Müller

Zur Berliner Geschichte – oder besser: zu den Geschichten, die man sich in Berlin über Berlin erzählt – gehört auch die Erzählung vom Verschwinden der sogenannten Freiräume. Davon gab es hier früher angeblich einmal sehr viel mehr, besonders natürlich in den mythenumrankten neunziger Jahren, in denen man sich in leeren Gebäuden in Berlin-Mitte die Nächte in improvisierten Clubs und Kellerbars und Galerien mit Stehausschank um die Ohren schlug, als gäbe es kein Morgen (und bezeichnenderweise auch kein Gestern). Man kennt das, es ist inzwischen hinlänglich kanonisiert. Natürlich hängt es davon ab, wen man fragt, und wahrscheinlich hat man es bei der Geschichte vom nun allmählich endgültigen Verschwinden dieser eh schon temporären Räume auch nur mit der Generationenerzählung einer bestimmten Zuzugskohorte zu tun, nämlich der meinigen, die um die Jahrtausendwende nach Berlin kam. Denn während die Bundesregierung vom Rhein an die Spree zog, der neue Bürgermeister das Prekäre, Übergangshafte und Ungesicherte der unmittelbaren Nachwendejahre in einer schnoddrigen „Arm, aber sexy“-Marketing- und Standortrhetorik verbrämte und die Stadt parallel ihre Wohnungsbaubestände an Investoren verscherbelte, begann man damals allmählich, den Neuankömmlingen zu erzählen, dass das Beste – eben: die Neunziger – grade vorbei wäre. Zu spät gekommen. Pech gehabt. Ab hier ist alles „normal“.

Seitdem kursieren in dieser Stadt immer blasser werdende Schrumpfformen dieser spezifisch Berliner Variante des „Früher war alles besser“. So gut wie alle, die ein paar Ausgeh- und Rumstehjahre hinter sich haben, haben irgendwann Geschichten von längst verschwundenen Räumen und Orten parat, an denen man diesen oder jenen Sommer verbracht hat oder auch nur eine legendäre Nacht, an der man den oder die geküsst hatte, sich verliebt hatte, diese Ausstellung gesehen oder eine viel zu große Ecstasypille … Weißt du noch? – War das bei … – Stand da mal … – Genau. Und auch wenn die Orte in den Erzählungen über die Jahre variierten, so war diese Kontinuität des Verschwindens doch etwas, was über die Generationen hinweg zumindest in den narrativen Strukturen eine Art Gemeinsamkeit stiftete. Nicht dass auch andere Städte früher mehr städtischen Freiraum zu bieten gehabt hätten, nicht dass auch anderswo ähnliche Mechanismen von Aufwertung und Verdrängung greifen. Und sowieso: Gehört die ständige Bewegung, das Neumachen, Überschreiben und Überbauen, auch jenseits von Schlagworten wie Gentrifikation nicht grundlegend zur Dynamik des Urbanen? In Berlin aber ging das eben nicht nur besonders schnell und war besonders radikal; die Gegenwart der Stadt hat mit dem Mauerfall zudem eine Art imaginiertes Anfangsdatum und mit den Neunzigern noch eine recht nahe und für die Identität der Stadt zentrale goldene Zeit. Von hier aus ist es ein leichtes, den Lauf der Geschichte als Verlustgeschichte zu erzählen.

Eine Veranstaltungsreihe wie die des Schinkel Pavillons namens „Disappearing Berlin“, also „verschwindendes Berlin“, schreibt sich – ob nun gewollt oder nicht – unweigerlich in dieses Narrativ ein. Besonders, wenn man die vorerst letzte Veranstaltung dieser einjährigen nomadischen Reihe mit Performances und Konzerten an prekären Übergangsorten, Umnutzungen, geschichtlich aufgeladenen Markierungen oder Leerstellen im städtischen Gefüge augenzwinkernd „Another Last Time“ nennt: ein weiteres letztes Mal, an einem weiteren verschwindenden Ort. Es geht etwas zu Ende. Und es geht natürlich trotzdem weiter, irgendwie. Gleichzeitig führt die Reihe die Geschichte vom Verschwinden selbst auf. Und zwar, indem sie sie Kunst werden lässt. Sie zeigt damit wohl auch ein wenig auf das Ende dieser Erzählung. Um nur einmal eine kleine Auswahl der Veranstaltungen und ihren Orten zu nennen: eine Aufführung von Julius Eastmans Minimal-Music-Stück „Gay Guerilla“ durch ein E-Gitarristinnen-Ensemble im leerstehenden Postbankhochhaus in Kreuzberg, einem Haus, das jahrelang Gegenstand eines Tauziehens zwischen einem privaten Investor und dem Bezirk war; eine Performance des Tanzkollektivs Young Boy Dancing Group in der Sandgrube einer Baustelle am Salzufer, wo aufgrund des Bebauungsplans nur Bürokomplexe statt der gebrauchten Wohnungen errichtet werden dürfen; ein Konzert von Billy Bultheel auf dem Dach von Álvaro Siza Vieiras IBA-87-Ikone an der Ecke Schlesische Straße, einem Gebäude, das in Berlin nach einem Graffiti auf der Betonwand nur als „Bonjour Tristesse“ bekannt ist; aber auch ein Konzert der Punkband Die Hässlichen Vögel in der 1997 eröffneten Vorzeige-Luxusmall „Quartier 206“ in der Friedrichstraße, aus der all die High-Class-Mieter wie Gucci, Saint Laurent oder Louis Vuitton schon längst wieder ausgezogen sind. Die bis dato letzte Veranstaltung fand im Januar 2020 mit dem Künstler Mohamed Bourouissa und anderen in Clärchens Ballhaus in der Auguststraße in Mitte statt. Da war dieses in Berlin legendäre Ballhaus mit Spiegelsaal und Restaurantbetrieb gerade erst geschlossen. Gegenwärtig wird es mit ungewisser Zukunft als „Eventlocation“ genutzt.

Jenseits ihres jeweiligen künstlerischen Gehalts haben all diese Aufführungen, Performances und Konzerte vor allem die Funktion, die leerstehenden Gebäude, Architekturikonen, die historisch aufgeladenen Räume, dysfunktionalen Shoppingmalls, die versteckten Parkdecks und die Baustellensandgruben zu „aktivieren“, wie es in der Sprache der zeitgenössischen Kunst so schön heißt. Die Orte werden immer mit ausgestellt, rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. „Disappearing Berlin“ deckt dabei nicht nur eine bestimmte Bandbreite ab, sondern spielt auch eine gewisse Geschichtlichkeit und Bedeutung der entsprechenden Orte nach vorne. Natürlich ist die Reihe vor den Problemen einer kurzfristigen und in die Zyklen der Verwertung integrierten Zwischennutzung nicht gefeit, die Orte dadurch aufwertet, dass sie sie mit Geschichte, kulturellem Kapital und natürlich am liebsten mit cooler Kunst anreichert. Und natürlich kann man der Reihe vor diesem Hintergrund auch vorwerfen, dass die Frage nach den Freiräumen heute vielleicht weniger eine von kurzfristigen Interventionen ist, sondern eher von langfristigem, in letzter Instanz lokal-nachbarschaftlich verankertem Engagement, das Freiräume, sind sie einmal aufgeschlossen, erhält und damit auf eine Weise auch institutionalisiert.

Gleichzeitig, und das wird an „Disappearing Berlin“ dann auch deutlich, geht es manchmal gerade nicht um Verstetigung. Denn was solche Orte ja gerade so spannend macht, ist das Offene im Sinne eines Übergangs, ist der Moment der Unbestimmtheit, in dem verschiedene Zeiten, Geschichten und Funktionen in ihrer Überlagerung sichtbar werden. Entsprechend vorsichtig geht die Reihe dann auch vor. Der entsprechende Genius Loci der ausgewählten Orte wird, so hat man den Eindruck, weniger abgegriffen als vielmehr, zerbrechlich und flüchtig wie er ist, bewusst gemacht und ausgestellt. Und das macht dann eben doch einen Unterschied.

Und schließlich zeigt der Schinkel Pavillon mit „Disappearing Berlin“ nicht nur auf das titelgebende Verschwinden von Freiräumen in dieser Stadt, sondern auch auf das Entstehen von neuen Zwischenräumen – siehe: Shoppingmall, siehe: Baugrube. Auch wenn man sich heute vielleicht nirgendwo mehr einfach so reinschleichen und loslegen kann, sondern stattdessen langwierig mit Zuständigen verhandeln muss und dazu auch noch den nicht immer unproblematischen Schutzmantel der Kunst braucht, entstehen dabei ja sowieso schon längst neue Erzählungen davon, wie man sich einen Raum nimmt, wie man mit ihm und seiner Geschichte umgeht und dort etwas macht, für einen Tag, für eine Nacht. Weißt du noch? – War das bei … – Stand da mal … – Genau.

Disappearing Berlin: Das für heute (Samstag) geplante „Another Last Time“ in der Hasenheide 13 wird aus bekannten Gründen vorsorglich abgesagt.

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