Freiheit Fehlanzeige

Ruud Koopmans analysiert Unfreiheit, Stagnation und Gewalt in der islamischen Welt und rückt dabei religiösen Fundamentalismus in den Mittelpunkt seiner Analyse

Kabul im Jahr 1961. Westlich gekleidete Frauen zeigen sich heute längst nicht mehr Foto: Harrison Salisbury/NYT/redux/laif

Von Edith Kresta

Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.“ Die Idea­lisierung des Islam wie in Goethes Gedichten im „West-östlichen Divan“ war vorvorgestern. Der Orient hat jeden Glanz verloren. Muslimische Länder gelten als Krisenherde, Bürgerkriegsregionen, in denen repressive, undemokratische Systeme, Despoten und totalitäre Strömungen fast überall auf dem Vormarsch sind.

„Die muslimischen Länder rutschen immer tiefer in die Krise“, sagt Ruud Koopmans, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität und Leiter der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Wissenschaftszen­trum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Sein neues Buch „Das verfallene Haus des Islam“ kritisiert den Aufstieg des Fundamentalismus in der islamischen Welt während der vergangenen vierzig Jahre. Der Fundamentalismus habe den Islam weltweit im Würgegriff. Seine These: 1979 war mit der Islamischen Revolution im Iran, dem Angriff auf die große Moschee in Mekka und dem Einmarsch der So­wjet­union in Afghanistan ein entscheidendes Jahr für die Verbreitung des islamischen Fundamentalismus. Dieser sei die Ursache dafür, dass die islamischen Länder immer tiefer in die Krise geraten sind.

Menschenrechte, vor allem die Rechte von Frauen, von Homosexuellen und von religiösen Minderheiten – all dies habe sich in den vergangen Jahrzehnten verschlechtert. In internationalen Statistiken darüber belegten islamische Länder die letzten Plätze. Und in der Tat, schon beim Betrachten von Fotos aus der islamischen Welt in Afghanistan, Pakistan oder Ägypten damals und heute fällt auf: Die Schönheit elegant gekleideter Frauen im öffentlichen Raum ist weitgehend unter den Schleier verbannt. Koopmans diagnostiziert ein Frauenemanzipationsdefizit, ein Wissensdefizit und ein Freiheitsdefizit.

Ruud ­Koopmans: „Das verfallene Haus des Islam“. C. H. Beck Verlag, München 2020, 288 Seiten, 22 Euro

Seit den 60er/70er Jahren habe die Demokratie weltweit große Fortschritte gemacht – etwa in Südeuropa oder Lateinamerika. Die Zahl der ­Demokratien in der islamischen Welt aber habe sich im gleichen Zeitraum verringert. Heute seien nur noch zwei islamische Länder Demokratien, Senegal und Tunesien. Auch diese sind durchaus bedroht: In Tunesien führt die Zivilgesellschaft, allen voran die Frauen, einen Dauerkampf gegen den Einfluss der islamistischen Partei auf die Parlamente und auf die Gesetzgebung und gegen die wahhabistischen Petrodollars, die in die Regionen und Moscheen fließen.

Koopmans’ Referenzpunkt ist klar: die demokratisch-liberalen Gesellschaften des Westens. Er ist ein kritischer Ratio­nalist, seine Soziologie ist datenfixiert. Er zitiert eigene und fremde Untersuchungen, Statistiken, Erhebungen.

Er will wissen, wie reich oder arm Menschen sind, wie gebildet, welche Einstellungen sie teilen. Und er vergleicht die Integrationserfolge von Hindus und Muslimen in Großbritannien oder Australien, in Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland. Er fragt, wie viele Frauen der jeweiligen Zuwanderergruppen im Arbeitsprozess sind, welche Bildungserfolge die Kinder haben. Er vergleicht die wirtschaftliche und demokratische Erfolgsgeschichte Südkoreas mit dem wirtschaftlichen und demokratischen Fiasko Ägyptens bei ähnlichen Ausgangsbedingungen. Bei so viel Faktenliebe und unverbundenen Variablen sieht man manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, die Komplexität des Themas Entwicklung gerät aus dem Blick.

Rechte von Frauen, Homosexuellen, Minderheiten – all das hat sich verschlechtert

Faktengetrieben kritisiert Koopmans auch postkolonia­le Theorien: „Mich hat das Ergebnis meiner Untersuchung selbst überrascht, wonach viele Länder, die länger kolonialisiert waren, heute in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie besser dastehen als andere, weil bestimmte Institutionen und Werte verbreitet wurden. Das heißt natürlich nicht, dass ich den Kolonialismus im Nachhinein rechtfertigen will“, sagt er im Interview.

Dieser Hinweis schützt ihn nicht automatisch vor dem möglichen Vorwurf, einen Nährboden für antimuslimischen Rassismus zu liefern. Indem Koopmans die Religion, genauer deren fundamentalistische Auslegung, in den Mittelpunkt seiner Analyse der Unfreiheit, Stagnation und Gewalt in der islamischen Welt stellt, weckt er in der zugespitzten Debatte schnell den Islamophobieverdacht. Schürt er damit tatsächlich Ängste vor dem Islam? Möglich. Aber vor allem klärt er auf über die Bedeutung, die diese religiös argumentierende totalitäre Ideologie in der Unterdrückung von Frauen, Minderheiten und Andersgläubigen hat, wie sie die demokratischen Ansätze unterminiert, ja zerstört.

„Das Desinteresse an der Unterdrückung von religiösen Minderheiten, Glaubensabtrünnigen, Frauen und Homosexuellen in der islamischen Welt ist erschütternd“, sagt Koopmans im Interview. „Wenn wir schon mal aufhören würden, jene Muslime zu entmutigen, die etwas gegen den Fundamentalismus unternehmen wollen, dann wäre schon ein wichtiger Schritt getan.“ Er fordert: eine differenzierte Einwanderungspolitik, die kritischen Stimmen Gehör verschafft; eine kritische Haltung gegenüber den Islamverbänden, dem Einfluss der Moscheen; und eine rationale Debatte statt Grabenkämpfen zwischen Islamophobieverdächtigen und Islamverstehern.