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Nach rassistischem Anschlag in Hanau„Alles Kinder aus Deutschland“

Tausende nahmen am Samstag an einer Kundgebung in Hanau teil. Zu Wort kamen auch Angehörige von Opfern des NSU.

Lange bevor die Kundgebung begann, versammelten sich die Menschen auf dem Hanauer Freiheitsplatz Foto: reuters

Hanau taz | Samstagnachmittag, drei Tage nach dem rassistischen Massaker, auf dem Freiheitsplatz in Hanau. Lange bevor die Kundgebung beginnt, haben sich hier viele Menschen versammelt, mit Fahnen migrantischer und nicht-migrantischer Organisationen, Parteien und Vereine. Viele halten Bilder der Getöteten in ihren Händen. Andere umarmen sich.

Knapp 100 weitere Personen stoßen aus einer Nebenstraße lautstark dazu. „Nationalismus raus aus den Köpfen“, rufen sie und ziehen vorbei an Susann Rohs. Die hat sich bei ihren beiden Söhnen eingehakt, alle drei blicken starr in die Menschenmenge. Die Mutter, die Tränen in den Augen hat, sagt: „Ich schäme mich für das, was in dieser Stadt passiert ist.“ Der Schock sitze tief, aber es sei auch schön, dass die Menschen hier jetzt zusammen halten würden. Die Frage sei: „Was passiert danach?“. Dass etwas geschehen muss, finden alle hier.

Das Hanauer Bündnis „Solidarität statt Spaltung“ hat gemeinsam mit dem DGB an diesem Samstag zu einer bundesweiten Großdemonstration in Hanau aufgerufen, gegen Rassismus und menschenfeindliche Ideologien. Laut Veranstalter*innen sind 6.000 Menschen dem Aufruf gefolgt, die Polizei spricht von rund 3.000 Teilnehmer*innen. Eine Frau of color ist mit ihrer Familie aus Frankfurt angereist. „Was sollen wir denn sagen?“, fragt sie. „Wir wollen ein Zeichen setzen gegen den Hass.“

Als die Kundgebung beginnt, kommen jene zu Wort, die schon sehr lange fordern, dass etwas passieren muss. Menschen, die heute die lange Geschichte des Rassismus im Nachkriegsdeutschland erzählen wollen.

„Leider geht das Morden weiter“

Da ist Mandy Boulgarides, die Tochter von Theodoros Boulgarides, der 2005 in München als siebtes Opfer der NSU-Rechtsterroristen ermordet wurde. Eine Sprecherin liest ihre Botschaft an die Angehörigen der Hanauer Opfer vor: Keiner kann ansatzweise fühlen oder erahnen, was der Verlust für die Familie und Freunde bedeutet. Meine Familie und ich teilen Ihr Schicksal, wir wünschen Ihnen Stärke und Mut weiterzumachen.“

Da ist die Botschaft von Osman Taşköprü, Bruder von Süleyman Tasköprü, der 2001 in Hamburg mit drei Schüssen getötet wurde: „Leider geht das Morden weiter, weil solche Leute geduldet werden“.

Da ist Ibrahim Arslan, der beim rassistischen Brandanschlag in Mölln 1992 drei Familienangehörige verloren hat, in Hanau selbst auf der Bühne steht und sagt: „Rassismus nicht zu nennen, ist genauso rassistisch wie diese Taten selbst.“ Er fragt: „Wann schliessen sich Polizei und Justiz der Intervention der Angehörigen endlich an?“

Da ist Rola Saleh, die Frau, die sich im Sommer 2018 den Rassisten von Chemnitz entgegengestellt hat, die jetzt sagt: „Was ist seitdem passiert? Seitdem hat sich nichts geändert!“ Sie schließt ihre Rede mit den Worten: „Es reicht in diesem Land nicht mehr, dass wir passiv demokratisch sind. Wir müssen alle Antifaschisten sein.“

Da ist Candan Özer Yılmaz, die Witwe von Atilla Özer, der den Nagelbombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstrasse schwer verletzt überlebt hat und 2017 verstorben ist. Sie sagt: „Ich wurde als Angehörige beschuldigt. Mein Mann hat bis zu seinem Tod mit einem Nagel im Kopf gelebt. Deutschland, du hast in Bezug auf Rassismus versagt!“

Dann treten die Angehörigen der Opfer des Hanauer Anschlags auf die Bühne. Einer von ihnen sagt: „Das sind alles Kinder aus Deutschland.“ Und dann schreit er: „Kinder aus Deutschland!“

Die Kundgebung endet mit einer Schweigeminute. Kurz nach 15 Uhr setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung. Ganz vorne laufen Freund*innen und Angehörige der Opfer. Sie halten weiße Plakate mit der Aufschrift „Say their names“. Darunter stehen die Namen der Opfer. Das Banner, das einige von ihnen tragen, zeigt Bilder der Ermordeten. Daneben steht „Faschismus und Rassismus töten überall.“

Die Demonstration endet an einem der Tatorte: Die Shishabar Midnight am Heumarkt, unweit des Freiheitsplatzes, ist immer noch mit weiß-rotem Band abgesperrt. Das Café wird von Polizisten bewacht. Überall stehen Kerzen, Rosen, Tulpen, bunte Sträuße neben den Bildern der Ermordeten.

Die Demo hält an. Dann rufen alle Gekommenen einmal mehr alle Namen der Opfer.

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2 Kommentare

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  • "Beware the politics of identity. They help legitimise the toxic far right

    by Kenan Malik

    If the right’s obsession with immigration has helped give new legitimacy to arguments of the far right, so has the left’s blindness to the consequences of the politics of identity. Many on the left now embrace the idea that one’s interests and values are defined primarily by one’s ethnic or cultural or gender identity.

    The politics of identity is, however, at root the politics of the reactionary right. The original politics of identity was that of racial difference, the insistence that one’s racial identity determines one’s moral and social place in the world. Now, identitarians of the far right are seizing upon the opportunity provided by the left’s adoption of identity politics to legitimise their once-toxic brand. Racism became rebranded as white identity politics."

    www.theguardian.co...se-toxic-far-right

    • @Weber:

      Mal schnell von Google übersetzt

      "Hüten Sie sich vor der Politik der Identität. Sie helfen, die giftigen Rechten zu legitimieren

      von Kenan Malik

      Wenn die Besessenheit der Rechten von der Einwanderung dazu beigetragen hat, den Argumenten der äußersten Rechten eine neue Legitimität zu verleihen, hat dies auch die Blindheit der Linken gegenüber den Folgen der Identitätspolitik getan. Viele Linke befürworten jetzt die Idee, dass die eigenen Interessen und Werte in erster Linie durch die ethnische, kulturelle oder geschlechtsspezifische Identität eines Menschen definiert werden.

      Die Politik der Identität ist jedoch die Politik des reaktionären Rechts. Die ursprüngliche Politik der Identität war die der Rassenunterschiede, das Beharren darauf, dass die eigene Rassenidentität den moralischen und sozialen Platz in der Welt bestimmt. Jetzt nutzen Identitarier der äußersten Rechten die Gelegenheit, die die Annahme der Identitätspolitik durch die Linke bietet, um ihre einst giftige Marke zu legitimieren. Rassismus wurde in weiße Identitätspolitik umbenannt. "