Obdachlosenzählung in Berlin: Auf der Suche
Fünf Menschen, die sich nicht kennen, treffen sich in der „Nacht der Solidarität“, um Menschen ohne Obdach zu zählen, zu befragen. Ein Ortstermin.
Es ist kurz nach 22 Uhr in Friedrichshain, der leichte Nieselregen hat aufgehört, kalter Wind pfeift über die Frankfurter Allee, die Shoppingmall gegenüber ist seit einer Stunde dicht, aus dem Personalausgang kommen lachend zwei Mitarbeiter, der Gemüseladenmann packt seine Ware zusammen.
Wir sind fünf Leute, die sich vorher nicht kannten; in einem Internetportal haben wir uns angemeldet, um bei Berlins, bei Deutschlands erster Obdachlosenzählung dabei zu sein. Die Stunden vor der Zählung harren wir im Zählbüro aus, bei Tee und Gebäck. „Und was machst du so?“ Eine Ärztin, ein Geisteswissenschaftler, ein Student und einer, der mit Wohnungslosen arbeitet – und ich, die Journalistin. Alle aus dem Kiez.
Wir laufen los, auf der Frankfurter Allee. Blicke in jeden Hauseingang. Wir schauen den wenigen Menschen, die nicht hasten, ohne Ziel sind, ins Gesicht, aufs Gepäck. „Man sieht sich ganz anders um“, sagt der Sozialarbeiter. „Man schaut doch überhaupt erst hin“, sagt der Student. Weiter zu der großen S-Bahn-Station, davor sitzen sie doch sonst immer. Heute niemand. Es wird Stunden dauern, bis wir wieder auf einen obdachlosen Menschen treffen.
„Im Sommer sehe ich hier immer Zelt“
An der nächsten Straßenecke löst sich ein junger Mann aus seiner Clique, zeigt auf die blauen Westen, die wir alle tragen. „Kann ich fragen, was Ihr macht?“ Er wirkt besorgt. „Klar“, sagt der Sozialarbeiter. „Wir zählen in dieser Nacht die Menschen, die auf der Straße leben“. „Ach so, ich dachte schon, es geht um den Virus.“ Der Mann geht erleichtert weiter. Wir lachen ein bisschen.
„Und warum habt Ihr so mitgemacht?“ Der Geisteswissenschaftler hat es in der Zeitung gelesen. Die Ärztin sagt, eine Kollegin hat es ihr erzählt und sie wollte eh mal etwas mit obdachlosen Menschen machen. „Der Arbeitgeber hat es uns vorgeschlagen“: Der Sozialarbeiter, der mit wohnungslosen Menschen arbeitet, bekommt sogar einen Ausgleichstag.
Keine Stunde sind wir unterwegs, da kommt uns einer aus einem Zählbüro aus Lichtenberg entgegen, ohne Weste, auf dem Heimweg. „Wir sind schon durch.“ Jetzt schon? „Haben gar keinen getroffen.“ Oh. Wir laufen weiter, etwas zügiger, Straße auf, andere Seite wieder zurück, zickzack. Kleine Straßen, die wir alle gut kennen. Der Student ist oft mit dem Hund unterwegs. „Im Sommer sehe ich hier immer Zelte.“ Heute ist die kleine Böschung am Rande unserer Zählbezirks leer. Parkbänke, Spielplätze, Hauseingänge, bestimmt schon die zehnte Pfandflasche, hier sind heute wohl keine Menschen ohne Obdach unterwegs.
Und dann, es ist nach Mitternacht, liegt da einfach ein Mensch auf dem Fußweg, zwischen Späti und dem kleinen koreanischen Restaurant. Nur ein Stück Bart zu sehen über dem braunen Schlafsack. Er schläft und wir wecken niemanden, wir stören niemanden. So sind die Regeln. Ein Kreuz bei „Zählung“.
„Danke, dass ihr fragt“
Die Straße macht einen Schlenker, 90er-Jahre-Architektur bietet mannshohe, windgeschützte Unterschlüpfe, Durchgänge zwischen den Häusern, hell beleuchtet. Ein Mann sitzt in seinem Schlafsack und liest. Neben ihm ein zweites Lager, hinter ihm ein Einkaufswagen. Mitte 40, lebt er seit 12 Jahren auf der Straße, sein Kollege ist gerade mit dem Hund spazieren. „Dankeschön, dass wir fragen durften“, sagen wir. „Danke, dass Ihr fragt, macht ja sonst niemand.“ Hoffentlich bringt es etwas, sagt der Sozialarbeiter. „Ja, mal schauen“. Der Mann lächelt. Ein Kreuz bei „Befragung“.
Zurück auf der Frankfurter Allee, die letzten Dönerläden machen zu. Da steht einer, den Rücken zu uns, die silberne Isomatte in der Hand. „Dürfen wir…?“ Dreht sich um und schaut mit müden Augen. „Klar.“ Ende 20 ist er und sieht aus wie 40. Seit 11 Jahren lebt er auf der Straße. Nein, keine Begleitung, er sei ganz allein. „So ist es, das Leben.“ Ein Kreuz bei Befragung.
Wir gehen weiter, es ist halb eins, noch einmal vorbei an der verwaisten Schlafstätte, die wir schon am Anfang gesehen haben. Immer noch niemand da. „Nein“, schreit da einer. Liegt mit Krücken auf der Straße, kann sich nicht bewegen, schreit vor Schmerzen. „Kein Körperkontakt mit den obdachlosen Menschen“, hieß es bei der Einführung im Zählbüro. Zwei von uns haken den Mann unter, helfen ihm zu seiner Schlafstätte. Er wimmert, weint. Wir sprechen seine Sprache nicht, sind ratlos. Die Ärztin, der Sozialarbeiter, der Geisteswissenschaftler, der Student, die Journalistin. „Eigentlich müsste man doch…“ Wir rufen den Rettungswagen.
Die Sanitäter kommen nach 20 Minuten, sie kennen den Mann schon, wirken unentschlossen. „Vorhin konnte er noch gut laufen.“ Jetzt nicht mehr, in einer Plastikfolie hält der Mann seine Befunde in der Hand, war offenbar erst vor wenigen Tagen im Krankenhaus. „Weiterbehandlung empfohlen“, liest der Sanitäter vor. Sie nehmen ihn mit, auf der weißen Bahre, mit seinem Plastiksack voll Habe. Vielleicht nur, weil wir da stehen, mit unseren blauen Westen, in der Nacht der Solidarität.
Ein Kreuz bei „Zählung“. Das letzte für unser Team. „Ein bitteres Ende“, sagt der Student. Wir laufen zurück zum Zählbüro, „ihr seid die letzten“, heißt es dort. Wir geben die Befragungsbögen ab. Und die blauen Westen, für das nächste Mal. Es ist nach Eins, wir gehen zurück. Nach Hause.
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