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Roger im Glück

Der Schweizer Tennisprofi Federer wehrt gegen Tennys Sandgren sieben Matchbälle ab. Im Halbfinale der Australian Open trifft er auf Novak Djokovic

Fordert das Glück über Gebühr heraus: Federer bei den Australian Open Foto: ap

Aus Melbourne Doris Henkel

Es gibt ja Menschen, mit denen man gern mal tauschen würde, doch zu denen gehörte Tennys Sandgren aus Tennessee/USA an diesem schrägen Dienstag in Melbourne sicher nicht. Irgendwie ist das in der ganzen Dimension fast nicht vorstellbar: Du bist die Nummer 100 der Tenniswelt, Stammgast eher bei kleineren Turnieren, spielst in einem der größten Stadien gegen den größten Star, der angeschlagen wirkt; du brauchst nur noch einen einzige Punkt für einen Sieg, von dem alle reden werden, weit über diesen Tag hinaus. Dann vergibst du die erste Chance, die zweite und die dritte, und irgendwann hörst du auf zu zählen, weil die Sache mit jeder verpassten Gelegenheit immer schlimmer wird. Dann ist es vorbei mit deiner Chance, und du ahnst: Von nun an geht’s bergab. Auf Wiedersehen.

Wie sich Roger Federer aus dieser Nummer gerettet hatte? „Manchmal brauchst du einfach Glück“, gab er nach seinem Sieg in fünf Sätzen (6:3, 2:6, 2:6, 7:6, 6:3) zu, „diesen Sieg hab ich nicht verdient.“ Er hatte sich wegen Schmerzen an der Leiste behandeln lassen, hatte eine Verwarnung wegen eines Fluches kassiert, hatte bescheiden gespielt, passiv und ohne Schwung. Er hatte Fehler über Fehler gemacht in den dreieinhalb Stunden der Partie – nicht aber bei den sieben Matchbällen, drei beim Stand von 4:5 im vierten Satz, vier wenig später im Tiebreak. Da war es der Amerikaner, der die Fehler machte, erzwungen oder ohne Not, und so rann ihm die Gelegenheit, den Coup seines Lebens zu landen, durch die Finger.

Als Federer hinterher gefragt wurde, ob er je so viele Matchbälle abgewehrt habe – an die Zahl sieben konnte er sich nicht richtig erinnern –, meinte er, genau wisse er das jetzt nicht, aber zu den fünf größten mirakulösen Rettungen gehöre dieses Ding sicher. Was direkt zur Überlegung führt, ob er das Wohlwollen der Götter bei diesem Turnier nicht allmählich verbraucht haben könnte. Schon beim Sieg gegen den Australier John Millman in der dritten Runde, den er nach einem klaren Rückstand im Match-Tiebreak des fünften Satzes noch gewonnen hatte, bediente er sich großzügig aus diesem Fundus. Ganz im Gegensatz zu Novak Djokovic, der am Dienstag gegen Milos Raonic so souverän spielte und gewann (6:4, 6:3, 7:6) wie in den Runden zuvor.

Das Halbfinale zwischen dem Schweizer und dem Serben am Donnerstag wird die 50. Begegnung der beiden sein, von denen Djokovic 26 gewann. Doch interessanter sind andere Zahlen – der letzte Sieg Federers im Rahmen eines Grand-Slam-Turniers liegt acht Jahre zurück, die fünf Spiele danach bei einem der großen vier Turniere verlor er, zuletzt vor einem halben Jahr in Wimbledon, als er zwei Matchbälle vergeben hatte. Dieses Spiel, findet er, müsse er dringend vergessen, aber die Frage ist ja ohnehin zunächst mal, ob er bis zum 50er am Donnerstag wieder fit sein wird.

Zu den fünf größten mirakulösen Rettungen, so Federer, gehöre dieses Ding sicher

Das Problem an der Leiste sei weniger eine Verletzung als einfach ein Schmerz, sagt Federer, und er müsse den freien Tag dazu nutzen, Genaueres herauszufinden. Nach dem langen Spiel gegen Millman in der ersten Woche wusste er, morgen wirst du müde sein, aber mehr ist es nicht. Diesmal schwingt mehr Sorge mit, aber auch die Hoffnung, dass zwei Nächte mit gutem Schlaf, der Rat von Ärzten und die heilenden Hände seines Physiotherapeuten alles wieder in Ordnung bringen werden. „Gegen Djokovic muss ich besser spielen“, sagt Federer, „sonst bin ich gleich beim Skifahren in der Schweiz“.

Es gilt noch herauszufinden, wer der bessere Skifahrer der beiden ist; Djokovic wuchs in den serbischen Bergen auf, bei Federer waren die Schweizer Berge auch nicht weit weg, aber die Beziehung zum Schnee war wohl nicht ganz so eng. Auf dem blauen Boden der Rod Laver Arena machte Novak Djokovic jedenfalls in den ersten fünf Runden des Turniers einen so souveränen Eindruck, dass er als Favorit ins Jubiläumsspiel geht. Den ersten seiner sieben Titel in Melbourne gewann vor einer halben Ewigkeit von zwölf Jahren, nach einem Sieg übrigens im Halbfinale gegen Titelverteidiger Federer. „Ich hoffe, dass ich wenigstens einen Matchball haben werde“, meinte er nach dem klinisch effektiven Auftritt gegen Raonic mit einem Anflug von Ironie. Es soll ja Fälle geben, in denen das genügt.

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