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Das Land ihrer Spekulationen

Gegen das „verrückte“ Kanal-Projekt des Präsidenten, den umstrittenen Kanal Istanbul, regt sich Widerstand in der türkischen Bevölkerung. Die Makler verkaufen derweil Grundstücke am zukünftigen Ufer des Kanals

Entlang der Sazlıdere-Talsperre soll in Zukunft der Kanal Istanbul, ein zweiter, künstlicher Bosporus, verlaufen Foto: Vedat Arık

Von Orhan Esen

Das hier ist nichts für Sie“, sagt Murat Özçelik zu Sedat Atalay. Atalay ist Lehrer und auf der Suche nach einem Grundstück, wo er sich in seiner Rente in Ruhe der Gartenarbeit widmen kann; Özçelik ist Makler und verkauft Grundstücke in der Umgebung der Sazlıdere-Talsperre, an der entlang der Kanal Istanbul verlaufen soll. Dass der umstrittene Kanal Istanbul wieder an Brisanz gewonnen hat und somit auch die Grundstückspreise gestiegen sind, ist für ihn eine glückliche Fügung. Sein Büro liegt in Kayabaşı, einer Ortschaft östlich von Sazlıdere.

In seinem Büro hängt ein riesiger Stadtplan von Yenişehir, auf Deutsch: Neustadt. Die Vorstellungen über die zukünftige Einwohnerzahl dieser Planstadt schwanken zwischen 500.000 und 2 Millionen, manche sprechen sogar von 7 Millionen. Entstehen soll diese Stadt an den Ufern eines geplanten Kanals von 45 Kilometer Länge, 350 Meter Breite und 21 Meter Tiefe, der die thrakische Halbinsel zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer durchqueren soll und somit die Istanbuler Altstadt zu einer Insel werden lassen würde.

Ein postmodernes Disneyland am Kanal

Murat Özçelik weiß, welche Grundstücke eine Zukunft haben. Eines Tages werde die Gegend um Sazlıdere eine riesige Stadt mit Wolkenkratzern, Shopping-Centern und Autobahnen sein, erklärt der Makler mit großer Überzeugung. Deswegen sei das hier auch nicht das Richtige für den Ruhestand des Lehrers. Mit einem Zwinkern gibt er Atalay einen Tipp: „Wenn Sie mich fragen, dann kaufen Sie in Çatalca. Hier gibt es nicht mehr viel zu holen. Die Zukunft liegt in Çatalca.“ Nach den Vorstellungen des Maklers wird die neu gegründete Stadt eines Tages bis zum 40 Kilometer entfernten Çatalca wachsen. Dann könnte Sedat Atalay seinen Ruhestand genießen und gleichzeitig seinen Kindern ein Grundstück mit steigendem Wert hinterlassen.

Die erste offizielle Erklärung zum Bau eines künstlichen Kanals westlich des Bosporus kam von Erdoğan höchstpersönlich, und zwar schon im April 2011. Damals bezeichnete er das in seinen eigenen Worten „verrückte Projekt“ als seinen „größten Traum“, mit dem nicht nur der Schiffsverkehr auf dem Bosporus verringert werden, sondern auch die Unfallgefahr auf ein Minimum reduziert werden sollte. Nach Angaben der Küstenwache ist jedoch die Anzahl der Durchfahrten in den vergangenen zwölf Jahren um mehr als ein Viertel gesunken. 2018 haben 41.000 Schiffe den Bosporus durchquert, 2006 waren es noch 54.000. Gemäß dem Meerengen-Abkommen von 1936 sollen Schiffe den Bosporus kostengünstig passieren können. Warum also sollten Schiffe durch einen neu gebauten und engen Kanal fahren, der dazu noch mehr Geld kostet?

Der Verkehrsminister Mehmet Cahit Turhan rechnet trotzdem mit einem jährlichen Gewinn von mehr als einer Milliarde Dollar durch den Schiffsverkehr auf dem Kanal Istanbul. Solche Spekulationen sind nichtssagend, solange nicht einmal die Kosten des Bauvorhabens feststehen.

Dass trotz all dieser Ungewissheiten bereits Grundstücke in der Gegend verkauft werden, erweckt Zweifel, ob der Kanal Istanbul wirklich für den Schiffsverkehr gebaut werden soll oder ob es nicht eigentlich darum geht, neues Bauland zu schaffen. Im offiziellen Werbefilm des Bauvorhabens wird die Geschichte eines Immobilienprojekts erzählt. Auch die Werbefilme anderer Firmen zeichnen kein Bild von einem internationalen Infrastrukturprojekt, sondern zeigen ein postmodernes Disneyland mit einem dekorativen Kanal.

Laut einer Studie des Türkischen Instituts für Datenverarbeitung Tuvimer hat sich die Zahl der zum Verkauf stehenden Grundstücke, die sich auf Wasserschutzgebieten befinden, zwischen 2014 und 2016 von rund 59.000 auf knapp 125.000 verdoppelt. Die Grundstücke besaßen 2014 ein Handelsvolumen von knapp 9 Milliarden Dollar. 2016 stieg dieser Wert auf knapp 25 Milliarden Dollar.

Glaubt man Murat Özçelik, dann sind die Grundstückspreise in den vergangenen zehn Jahren immer dann nach oben gegangen, wenn Erdoğan über den Kanal Istanbul gesprochen hat. „Ich glaube an Erdoğan und der hält sein Wort“, sagt er und lächelt. Der Makler glaubt daran, dass durch den Kanalbau die Wirtschaft angekurbelt werde.

Die Istanbuler stehen Schlange vor der Behörde

Der Kanal Istanbul ruft in der Bevölkerung noch weit mehr Widerstand hervor als frühere Projekte der AKP wie der Flughafen und die dritte Bosporusbrücke, die trotz großer Proteste verwirklicht wurden. Mehr als 100.000 Menschen standen Ende Dezember vor den Behörden des Ministeriums für Umwelt und Stadtentwicklung Schlange, um gegen den Kanalbau Widerspruch einzulegen. Auch die Istanbuler Stadtverwaltung, die seit den letzten Wahlen in den Händen der Opposition ist, hat Ende 2019 eine Kooperationsvereinbarung mit dem Ministerium aufgekündigt. Oberbürgermeister İmamoğlu hat sogar ein Referendum über das Kanal-Projekt vorgeschlagen.

Wenn der Kanal tatsächlich gebaut wird, hat das schwerwiegende ökologische Auswirkungen: Die Sazlıdere-Talsperre wird verschwinden, die ein Zehntel der Wasserspeicherkapazität von Istanbul ausmacht. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Terkos-Lagune versalzt, die zwei Zehntel der Kapazität liefert. Die Schilfgebiete rund um diese Gewässer sind wichtige Brut- und Durchzugsräume für heimische Vögel und Zugvögel. Der Bau des Kanals würde dieses Ökosystem unwiederbringlich zerstören. Dazu kommt das Risiko von Erdrutschen bei einem Erdbeben, das sich durch eine Bebauung der Region weiter erhöhen würde.

Die Unterhaltung im Maklerbüro in Kayabaşı hat unterdessen einen anderen Ton angenommen. Makler Özçelik, demzufolge Istanbul das einzige wirtschaftlich relevante Zentrum und eine weitere Verdichtung deshalb unvermeidlich ist, lässt auch seine eigenen Absichten durchblicken: Eigentlich sei Istanbul am Ende und auch ihn werde hier nichts halten. Sein Ziel ist es, noch für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre Grundstücke hier zu verkaufen und dann, wenn er genug gespart hat, in sein Dorf im Nordosten der Türkei zurückzukehren, um dort in Ruhe zu leben.

Aber was ist, wenn der Kanal doch nicht gebaut wird und eine Bebauung der Flächen nicht genehmigt wird? Was wird dann aus denen, die in die Äcker hier investiert haben? „Investieren heißt immer auch riskieren. So viel sollten die Leute davon verstehen“, antwortet Murat Özçelik ruhig.

Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein

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