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Massenentlassungen in der TürkeiStaatstheater tragen Trauer

Viele Mitarbeiter der türkischen Staatsbühnen erhielten zu Jahresbeginn „gelbe Umschläge“. Die Opposition vermutet dahinter politische Willkür.

Das Atatürk-Kulturzentrum (hier 2013) auf dem Taksim-Platz in Istanbul wurde 2018 abgerissen Foto: imago-images/epd

ISTANBUL taz | Für viele Schauspieler, Bühnenarbeiter und anderes Personal an den türkischen Staatsbühnen begann das Jahr mit einem Paukenschlag. Sie erhielten „gelbe Umschläge“, mit denen ihnen ihre fristlose Kündigung mitgeteilt wurde. Bei einigen kamen die Umschläge nur Stunden vor einer Aufführung – sie durften dennoch nicht mehr auf die Bühne.

In der südtürkischen Metropole Adana traf es sogar den Hauptdarsteller des Abends. Das Stück „Die Schöne von Miletos“ musste daraufhin abgesagt werden. Auch andere Vorstellungen wurden verschoben oder abgesagt. Nach Angaben der Gewerkschaft Kültür Sanat-Sen (Kunst und Kultur) wurden bislang insgesamt 90 Mitarbeiter der Staatstheater und 57 Mitarbeiter der staatlichen Opern entlassen. Nach Presseberichten von Ende letzter Woche kann sich die Zahl noch bis auf 300 erhöhen.

Deniz Özsaygı, Sprecherin der Gewerkschaft, sagte, nach ihren Informationen standen die jetzt gefeuerten Mitarbeiter auf einer schwarzen Liste, die die Generaldirektion der Staats­thea­ter und staatlichen Opern vom Kulturministerium bekommen hatte. Manchen der Gekündigten sei mitgeteilt worden, sie hätten eine „Sicherheitsüberprüfung“ nicht bestanden.

Die Gewerkschaft und Vertreter der Opposition vermuten, dass es sich bei den Entlassungen um eine Säuberungsaktion gegen politisch missliebige Mitarbeiter handelt. Man habe auch anhand der Social-Media-Aktivitäten der Betreffenden überprüft: „Ist er/sie für uns oder gegen uns“, vermutet Deniz Özsaygı.

Nachfragen zu den Gründen der Entlassungen

Alpay Antmen von der CHP hat im Parlament eine Anfrage an das Kulturministerium gestellt, ob Aktivitäten in den sozialen Medien ein Grund für die Entlassungen war. Statt des Kulturministeriums gab die Generaldirektion der staatlichen Bühnen eine schriftliche Erklärung ab, in der sie sich gegen die Vorwürfe verwahrte.

Bei den betroffenen Mitarbeitern seien die Verträge zur Jahresfrist ausgelaufen. Für eine Verlängerung der Verträge müssten die Mitarbeiter neue Kriterien und Bedingungen erfüllen, die bei einigen nicht mehr gegeben gewesen wären. Das sei ein ganz normaler Vorgang und von den Medien übertrieben und gefälscht dargestellt worden.

In der Türkei gibt es landesweit 40 staatliche Bühnen, allein 17 davon in Istanbul und Ankara. Die prominenteste staatliche Bühne und die Oper liegen allerdings schon länger brach. Sie gehörten zum Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz in Istanbul. Dieses Kulturzentrum stand beispielhaft für den Konflikt zwischen der AKP-Regierung und den staatlichen Bühnen, die allesamt in der Republikzeit der Türkei gegründet wurden und zur kulturellen Annäherung des Landes an Europa beitragen sollten.

Sie waren der islamischen AKP deshalb von Beginn ihrer Regierung 2003 an ein Dorn im Auge. Das Atatürk-Kulturzentrum wurde bereits 2008 wegen angeblicher baulicher Mängel stillgelegt, aber dann nicht, wie zunächst versprochen, saniert, sondern im Mai 2018 abgerissen. Präsident Tayyip Erdoğan lässt nun an gleicher Stelle ein neues großes Kulturzentrum bauen, über dessen spätere inhaltliche Ausrichtung aber noch nichts bekannt ist.

Türkische Stücke, die das Heimatgefühl stärken

Bekannt ist dagegen, dass der bis vor Kurzem amtierende Generaldirektor der staatlichen Bühnen, Nejat Birecik, schon vor einiger Zeit verkündet hatte: „Wir öffnen unsere Bühnen nur noch für türkische Stücke, die das Heimatgefühl stärken.“

Freie Theater, die die ideologischen Vorgaben der AKP-Kulturpolitik missachten, müssen mit Repressalien rechnen. Letztes Jahr wurde die Aufführung eines Stückes mit Polizeigewalt verhindert, weil der Titel „Nur ein Diktator“ unbotmäßige Kritik befürchten ließ. Einer der prominentesten Schauspieler und Regisseure, Memet Ali Alabora, wird im Gezi-Prozess mit weiteren 15 Personen angeklagt und mit lebenslanger Haft bedroht, weil er 2012 ein Theaterstück über einen Volksaufstand inszeniert hatte, das angeblich die Gezi-Proteste inspiriert haben soll. Alabora flüchtete nach London.

Viele Aktivisten der freien Theater haben die Mitarbeiter an den staatlichen Bühnen seit Langem kritisiert, weil sie sich nicht gegen die inhaltliche Vereinnahmung durch die Regierung gewehrt haben. So veröffentliche der Verein der Kulturschaffenden der Theater (DETIS) folgende Erklärung: „Nach den gelben Umschlägen tragen die Staatstheater Trauer. Dieses dunkle Ende haben die Staatsthea­ter sich mit ihrem Schweigen selbst zuzuschreiben.“

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