: Der Exodus der Ärzte
Migration ist für afrikanische Länder ein wirtschaftlicher Vorteil – nicht jedoch, wenn dringend benötigtes Personal den Gesundheitssektor verlässt
Es sind nicht nur junge Nigerianer*innen ohne Ausbildung, die ihr Land verlassen. Auch Ärzt*innen verabschieden sich, um anderswo bessere Arbeitsbedingungen zu finden. Sie gehen in Länder, in denen das Gesundheitssystem besser funktioniert – und sorgen so mit dafür, dass es in Nigeria noch prekärer wird. Akachi Odoemene von der Universität Princeton spricht von einer „Kultur der Auswanderung“ unter weiblichen nigerianischen Pflegekräften, in einer Studie anderer US-Wissenschaftler*innen ist die Rede davon, die reichere Staaten würden afrikanische Pflegekräfte und Ärzt*innen „wie ein Staubsauger“ anziehen und verschlucken.
Einer der Profiteure dieser Entwicklung ist etwa das Vereinigte Königreich. Die jüngsten Statistiken des General Medical Council in Großbritannien zeigen, dass 6.289 Ärzt*innen, die sich in Nigeria qualifiziert haben, in den letzten Jahren in das Vereinigte Königreich eingewandert sind. Auch die USA, Kanada, Saudi-Arabien und Kuwait sind Ziele von Ärzt*innen, die Nigeria wegen schlechter Bezahlung und Infrastruktur verlassen.
Dem Bundesstaat Lagos kehren nach Angaben des regionalen Ärztekammer-Vorsitzenden Saliu Oseni alle sechs Monate 50 bis 60 Ärzt*innen den Rücken. Ersetzt werden sie kaum. Die nigerianische Regierung spielt das Problem des medizinischen Braindrains herunter und weigert sich, die wirtschaftlichen und sozialen Kosten anzuerkennen. Arbeitsminister Chris Ngige sagte kürzlich in einem TV-Interview, das Land habe genug Ärzt*innen, um die Bedürfnisse seiner über 200 Millionen Bürger*innen zu decken.
Statistiken der Nigerianischen Ärztekammer (NMA) und der Nationalen Vereinigung der niedergelassenen Ärzte (NARD) zeigen jedoch, dass heute nur 40.000 Ärzt*innen die 200 Millionen Bürger*innen versorgen. Das bedeutet, dass ein Arzt auf 5.000 Menschen kommen. In Deutschland sind es mehr als 4 Ärzt*innen auf 1.000 Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine Quote von einem Arzt je 1.000 Menschen als Mindestanforderung formuliert. Um eine „ausreichende“ Versorgung zu gewährleisten, bräuchte Nigeria aktuell also etwa 200.000 Ärzt*innen.
Die Abwanderung von Ärzt*innen zeigt, unter welchem Druck der Gesundheitssektor steht. Nur bei etwa 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung werden Behandlungen von der nationalen Krankenversicherung abgedeckt. Der Rest müsste die teils enormen Kosten für Gesundheitsdienste aus eigener Tasche bezahlen – kann dies aber in aller Regel nicht. Vermeidbare Todesfälle sind die Folge, und ebenso sterben Patient*innen, weil medizinische Geräte fehlen oder defekt sind – ein für Ärzt*innen ernüchterndes, wenn nicht deprimierendes Arbeitsumfeld, das einige dazu treibt, nach besseren Alternativen zu suchen.
Ajakaiye ist Redakteurin bei der Zeitung The Nation in Abuja.
Im April 2001 war Nigeria Gastgeber für die Staatschefs der Afrikanischen Union (AU), die damals beschlossen, 15 Prozent der Wirtschaftsleistung für den Gesundheitssektor auszugeben. Der als „Abuja-Erklärung“ bekannte Beschluss wurde in Nigeria bis heute nicht umgesetzt. 2003 erreichte der Anteil der Gesundheitsausgaben an der jährlichen Wirtschaftsleistung ein „Hoch“ von 4,3 Prozent – und dümpelt seither um die 3 bis 4 Prozent. Und so wie es aussieht, zählt Nigeria zu den größten Verlierern, was die Abwanderung von Ärzt*innen angeht: Nach einer Zählung der Mo Ibrahim Foundation geben die afrikanischen Länder zwischen 21.000 und 59.000 Dollar für die Ausbildung eines Arztes aus. In dem Bericht heißt es weiter, dass neun afrikanische Länder, darunter Nigeria, seit 2010 mehr als 2 Milliarden Dollar durch die Ausbildung von Ärzt*innen verloren haben, die dann in andere Länder abwandern. Nigeria bezahlte deren medizinische Ausbildung mit Steuergeldern. In einem Land mit einer Lebenserwartung von knapp 55 Jahren, der viertniedrigsten der Welt, ist die Abwanderung von Ärzt*innen ein Verlust für die gesamte Gesellschaft.
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