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Vom Ende der Authentizität

Die Mode der 2010er Jahre war geprägt von Digitalität, Drag und Druck zur Selbstoptimierung. Ein Resümee

Mode, die Meme werden soll: ein Kleid mit unmissverständlicher Ansage aus der Frühjahrs-/Sommerkollektion 2019 von Viktor & Rolf Foto: Thibault Camus/picture alliance

Von Donna Schons

Man kann es sich heute nur schwer vorstellen, aber als Insta­gram im Oktober 2010 veröffentlicht wurde, richtete sich die App vornehmlich an Menschen mit einer Vorliebe für Independentfilme, Plattenspieler, Schreibmaschinen und Secondhandkleidung, die das von den Beatniks entliehene Label „Hipster“ mit dem gleichen Augenrollen von sich wiesen, mit dem Avril Lavigne in einem Interview zu Beginn der nuller Jahre verkündete: „It’s more punk to tell people you’re not punk.“ Das Tolle an Instagram war damals, dass man digital aufgenommene Fotos so bearbeiten konnte, dass sie aussahen wie analoge. Der Beginn der Dekade war geprägt von Nostalgie, von einer Sehnsucht nach Authentizität und Patina, die sich in den skeumorphen, ältere Produkte nachahmenden Oberflächen des drei Jahre zuvor veröffentlichten iPhones manifestierten: das Instagram-Icon war eine Polaroidkamera, die YouTube-App sah aus wie ein Röhrenfernseher und als Notizen eingetippte Texte erschienen in krakeliger Blockschrift auf einem digitalen Yellow Legal Pad.

Das Update des Apple-Betriebssystems iOS 6 im Jahr 2014 versinnbildlichte eine Kehrtwende: Das digitale Interface des Smartphones orientierte sich nicht mehr an analogen Objekten, stattdessen erschien ein Großteil der Realität fortan für die Sehgewohnheiten des digitalen Raums optimiert. In einem Essay für das Technikportal The Verge beschrieb Kyle Chayka 2016 den „Airspace“: ein internationales Gefüge aus einheitlich minimalistisch eingerichteten Cafés, Coworking Spaces und Ferienwohnungen, die sich mit ihren dekorativen Glühbirnen, Sichtziegeln und Altholztischen jeglicher lokaler Zuordnung entziehen und akkumuliert einen virtuellen Raum bilden. Ähnliche Verflachungsprozesse ließen sich in der Mode der 2010er beobachten: Labels wie Balen­ciaga, Balmain, Burberry, ­Diane von Furstenberg, Rimowa und Yves Saint Laurent ersetzten ihre einprägsamen Logos durch einheitliche serifenlose Lettern, die im Anbetracht ihrer Skalierbarkeit einem Webdesign-Handbuch entsprungen sein könnten. Die Pull-to-Refresh-Logik des spontanen Drops von Kollektionen löste die langatmigen Zyklen des Modejahres ab, und Onlineshops eiferten Amazon darin nach, den Lag von der Kaufentscheidung bis hin zum Erhalt des Produkts auf ein Minimum zu reduzieren.

Selbst in den Front Rows betrachtete man neue Kollektionen durch den Filter der Smartphone-Screens, und so dominierten klare Linien, großflächige Logos und markante Setzungen die Laufstege der 2010er. Die Preispolitik des Luxussektors beruhte weniger auf dem Einsatz raffinierter Schnittmuster und kostspieliger Stoffe als vielmehr auf Werten, die durch auratische Aufladung erzeugt wurden. An die Spitzen der großen Modehäuser drängten kollaborativ arbeitende Krea­tiv­direktoren wie Virgil Abloh, dessen Talent vor allem in seiner treffsicheren Produktion von Hypes begründet liegt.

Zahlreiche Labels setzten auf die Verbreitungslogiken des Internets und versuchten, ähnlich wie Abloh appropriierbare popkulturelle Referenzpunkte zu schaffen. Unter die Kategorie der Meme-Mode fielen Viktor & Rolfs opulente Tumblr-Slogan-Tüllkleider („I’m not shy, I just don’t like you“) ebenso wie Moschinos slapstickhaft überdimensionierte Baseballcaps, die knapp 4 Zentimeter großen Chiquito-Handtaschen von Jacque­mus und Alessandro Micheles Auto-Brand-Hacking („Guccy“). Mehr als alle anderen beherrschte jedoch zweifelsohne Demna Gvasalia die Kunst des viralen Designs. Das DHL-Shirt des georgisch-deutschen Designers evozierten ebenso viele Feuilleton-Kommentare wie sein mehrere tausend Dollar teures Imitat der blauen Frakta-Tragetasche von Ikea.

Gvasalias Durchbruch mit seinem Label Vetements, verortet an der Grenze zwischen Streetwear und Haute Couture, und seine anschließende Berufung zum Kreativdirektor Balenciagas im Oktober 2015 markierte die endgültige Abkehr vom prätentiösen Authentizitätsstreben der Hipster. Gvasalias Models posieren als Punks, korrupte Politiker und Hooligans und verorteten sich mit ihren archetypischen Rollen in der „Hölle der Relativität aller Zeichen“, als die Jean Baudrillard die Mode bereits in den 70er Jahren enttarnte.

Ironisches Power Dressing, der „I really don’t care, do u?“-Parka von Zara, mit dem Melania Trump 2018 für Aufsehen sorgte, Normcore, Fast-Fashion-Hoodies mit „Stay Woke“-Aufdruck, Maximalismus und Ugly Sneaker – das eng mit der Mode verbandelte Künstlerkollektiv Dis traf den Nagel auf den Kopf, als es die Berlin-Biennale 2016 unter das zeitdiagnostische Motto „The Present In Drag“ stellte.

Im September 2012 postete Kim Kardashian ein Selfie, auf dem rituell anmutende Bemalungen ihr Gesicht zieren: von ihrer Nasenspitze führt ein heller Strich hinauf zu den Augenbrauen und mündet auf der Stirn in einer breit auslaufenden Fächerform, dunkle Balken markierten die Hohlräume unterhalb der Wangenknochen, und der Bereich unterhalb der Augenpartie ist bedeckt von einer dicken Schicht weißem Puder. Der Post popularisierte mit „Baking“ und „Contouring“ gleich zwei Make-up-Techniken, die bis dahin vor allem von Dragqueens angewandt wurden. Die Kardashian-Familie prägte mit ihren technomorphen und speziell auf Fotogenität modulierten Körpern und Gesichtern maßgeblich das gängige Schönheitsideal der 2010er. Wie die Modekritikerin Natasha Stagg in ihrer Ende 2019 erschienenen Essaysammlung „Sleeve­less“ bemerkt, verheimlichen die Kardashians niemals die Anstrengungen und die Konstruiertheit, die ihrer Schönheit zugrunde liegt. Im Fernsehen und auf Instagram gewähren sie minutiösen Einblick in Facials, Outfit-Fittings, Botoxbehandlungen und Fitnessstudio-Besuche. „Faking beauty meant keeping the falsification a secret“, schreibt Stagg über die Prä-Kardashian-Ära. In den 2010ern, die von konstanter Transformation und Selbstoptimierung geprägt waren, wurde diese Regel hinfällig. Als besonders geeignet für die Zurschaustellung des sorgsam geformten Körpers und des ihm zugrundeliegenden Arbeitsethos erwies sich der Athleisure-Trend, der eng anliegende Sportbekleidung als Alltagsbekleidung zweckentfremdete und so eine ständige Bereitschaft zur körperlichen Betätigung suggerierte.

Viele Labelssetzten auf die Verbreitungslogiken des Internets und versuchten, popkulturelle Referenzpunkte zu schaffen

Das Spiel mit den Rollen und der Prozess ständiger Verformung kann ein euphorisches Eintauchen ins kühle Nass der Fluidität bedeuten, wie es die PC-Music-Ikone Sophie in ihrer Madonna-Reprise „Immaterial“ heraufbeschwört. Meist erzeugt es jedoch vornehmlich Druck. Mit Verweis auf den Hang der 2010er zu Kleidungsstücke wie aus der Fetischszene entlehnten Ledergeschirren und hautengen Yoga Pants, die auf das Streben nach einem schmerzlich unerreichbaren Status verweisen, postuliert Stagg: Dysmorphophobie, eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, sei unausweichlich.

Angesichts der weltpolitischen Lage und einer drohenden Umweltkatastrophe kämpfte die Mode der 2010er nicht nur mit Selbstwahrnehmungsstörungen, sondern auch mit Selbstlegitimierungsproblemen. Oft behalf man sich mit kosmetischem Laufsteg-Aktivismus: Karl Lagerfeld inszenierte für Chanel eine Demonstration mit vage feministischen Protestschildern („Free Freedom“, „Ladies First“), Marni brachte die gestrickten Pussy-Wollmützen des Women’s March auf den Catwalk und Maria Grazia ­Chiuri druckte den Titel von Chimamanda Ngozis Essay „We Should All Be Feminists“ in Großbuchstaben auf ein Dior-Shirt.

Kim Kardashian nahm den wachsenden politischen Unmut zum Ende der Dekade indes zum Anlass für eine weitere Selbsttransformation, begann ein Jurastudium und fing an, sich für Gefängnisrehabilitation einzusetzen. 2018 hielt sie zum ersten Mal eine Rede im Weißen Haus, wenige Monate später besuchte sie zum zweiten Mal den US-Präsidenten, der wie sie selbst auch durch Reality-TV zur Berühmtheit gelangt war. Die kostümartig konservativen Hosenanzüge, die sie zu diesen Anlässen trug, stammten in beiden Fällen von Vetements.

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