: Kinder des Umbruchs
Vor 30 Jahren begann die rumänische Revolution in Timișoara. Heute lebt und arbeitet jeder fünfte Rumäne im Ausland. Eine Geschichte über Rückkehrer, Dableiber und Exportkinder
Aus Timișoara Holger Fröhlich und Julia Lauter
Am Stadtrand von Timișoara steht ein steinernes Häuschen im Schatten eines wuchtigen Rohbaus. Es ist eine von Tausenden unvollendeten Ruinen, die in jedem Dorf und in jeder Stadt Rumäniens wie faulende Zähne zwischen gesunden Häusern stehen. Sie alle erzählen von Sehnsucht und zerschlagener Hoffnung.
Neben der Ruine sitzt Andrea Wolfer auf der von Wein überwucherten Terrasse ihres Häuschens. „Ich war gerade ein halbes Jahr alt, als wir das Chaos hier verließen und meine Eltern mit mir nach Deutschland gingen“, sagt sie.
Hier, in Timișoara, im Westen Rumäniens nahe der Grenze zu Ungarn und Serbien, begann vor 30 Jahren jene Revolution, die dem Land neue Hoffnung gab. In diesem Jahr wurde auch Andrea Wolfer geboren. Sie ist ein Kind der Revolution. Heute schimmern auf ihrer Terrasse kleine dunkle Weintrauben zwischen den Blättern hervor.
Wolfer spricht gewähltes Deutsch, sie wohnt im Stadtteil Freidorf, der auch im Rumänischen so heißt, eine deutsche Kolonie. Wolfers Mutter gehört der schwäbischen Minderheit Rumäniens an. Doch bei dieser Erzählung kommt die Tochter ins Stocken. „Wir lebten in der Nähe von Rottweil in Baden-Württemberg. Ich erinnere mich an Spaziergänge durch Parks, an schöne Spielplätze, daran, dass wir uns frei gefühlt haben.“ Doch bereits 1993, kurz nach ihrem vierten Geburtstag, kehrt die Familie nach Timișoara zurück. Ganz plötzlich. Die Eltern erzählen der Tochter nicht, warum.
Wenige Fahrradminuten, einen Steinwurf vom Flüsschen Bega entfernt, legt sich Ema Staicut ein Zuhause aus Steinen und Hölzern. Vor sich hat sie ein tiefblaues Baumwolltuch ausgebreitet und arrangiert Bergkristalle, Muscheln und Rauchwerk darauf. Sie sitzt im Wohnzimmer ihrer Mutter im dritten Stock eines Wohnblocks, in dem die Nachbarn bei allen klingeln, wenn sie gebacken haben, und in dem jeder weiß, wessen Angehörige gerade im Westen zum Arbeiten sind.
Sie zündet eine Kerze an: „Ich habe schon als Kind solche Arrangements gebaut. Selbst wenn ich nur eine Nacht bleibe, kann ich mir so ein Zuhause schaffen.“ Auch Ema Staicut ist im Jahr der Revolution geboren. Die 30-Jährige hat vor vielen Jahren Rumänien verlassen, ihren Besitz trägt sie seitdem in Rucksäcken und Taschen mit sich.
Das ist die Geschichte zweier junger Frauen, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie eines gemeinsam: Über ihnen liegt der Schatten einer unvollendeten Revolution. Beide wurden kurz vor dem Umsturz 1989 in Timișoara geboren, wuchsen in die Wirren jener Jahre hinein und bekamen mit dem EU-Beitritt Rumäniens die Türen zu Europa geöffnet, pünktlich zur Volljährigkeit.
Da ist Andrea Wolfer, deren Eltern sie zum Exportkind – so nennen es manche in Rumänien – erzogen haben, ausgebildet für ein besseres Leben im Westen. Und Ema Staicut, die nie vorhatte, ihr Land zu verlassen.
Während hierzulande die deutsche Einheit gefeiert wird, ist in Rumänien dreißig Jahre später von der Euphorie jener Tage nichts mehr zu spüren. Und während in Deutschland über die friedliche Revolution diskutiert wird, sind die mindestens 1.104 Toten und 3.352 Verletzten der rumänischen Revolution bis heute ungesühnt.
Viel ist passiert seit dem Umsturz vor 30 Jahren, mit dem EU-Beitritt 2007 hat das Land einen großen Schritt nach vorne getan. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf näherte sich dem EU-Mittelwert an, die Wirtschaft wächst beträchtlich. Gleichzeitig bleibt Rumänien eines der ärmsten Länder der Union, leben 16 Prozent der Bevölkerung ohne Zugang zu Sanitäranlagen.
Wie tief die Kluft zwischen Stadt und Land ist, zeigt ein Beispiel: Das rumänische Internet zählt zu den schnellsten der Welt – gleichzeitig hat ein Drittel aller Menschen im Land gar keinen Internetzugang. Die Frage, wer von der Revolution profitierte, beschäftigt nicht nur Historiker und Gerichte, sondern auch die Menschen auf der Straße: Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt fanden erstmals seit 1989 wieder Massenproteste in Rumänien statt. Damals, 2017, plante die Regierungspartei PSD, Korruptionsdelikte zu entkriminalisieren und eine Amnestie zu erlassen. Die sozialdemokratische Regierung, die nach der Revolution wichtige Posten besetzte, zog nach monatelangen Demonstrationen und auf Druck der EU das Vorhaben zurück.
Eine Folge dieser Entscheidung: Im Frühsommer 2019 wurde der Parlamentspräsident Liviu Dragnea wegen Korruption verhaftet. Im November gewann der bürgerliche Kandidat erneut die Wahl zum Präsidenten mit dem Slogan „Für ein normales Rumänien“.
Doch: Was ist normal? Jeder fünfte Rumäne lebt oder arbeitet im EU-Ausland, Deutschland ist wichtigster Handelspartner und erstes Ziel der ausreisenden Rumänen.
Manche Kinder der Revolution wenden sich Rumänien aber wieder zu, freiwillig, wenn sie in der Heimat eine Chance für sich sehen. Oder gezwungenermaßen, wenn sie es im Westen nicht geschafft haben.
Andrea Wolfer kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie auf ihrer Veranda in Freidorf von ihrer Rückkehr nach Rumänien erzählt. Auf dem alten Sofa vor ihrem Haus wirkt die große Frau dann sehr klein. Sie blickt auf die Mauern der Bauruine ihrer Eltern. Wolfer war vier Jahre alt, als ihr Vater sie zum Kindergarten in Rumänien zerren musste – das Mädchen wollte nicht ankommen, wünschte sich zurück in das kleine schwäbische Dorf, das ihr Zuhause gewesen war.
Den Grund für die Rückkehr hat Wolfer bis heute nicht erfahren, es bleibt wohl für immer ein Familiengeheimnis. Nur so viel weiß sie: Die Rückkehr nach Rumänien empfanden die Eltern als Niederlage. „Sie wollten die Zeit in Deutschland einfach vergessen“, sagt Andrea Wolfer und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, „deshalb schwiegen sie.“ Ihr Leben war von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe: Im Kindergarten oder auf der Straße konnte Wolfer nicht sprechen, sie verstand kein Rumänisch. Und zu Hause war sie mit der Sprachlosigkeit ihrer Eltern konfrontiert. „Es gab keine Zeit für Geschichten, nur fürs Schuften“, sagt sie. Zurück in Rumänien hatten ihre Eltern nur noch zwei Dinge vor Augen: ein Haus zu bauen, das die einfachen Häuschen ihres Viertels in den Schatten stellen sollte – und ihre Tochter eines Tages zurückzuschicken nach Deutschland.
Das Haus errichteten sie auf dem Grundstück der Großtante: doppelgeschossig, mit großem Balkon Richtung Straße, ein Haus wie aus dem deutschen Bilderbuch. Dafür arbeiteten die Eltern unablässig, selbst im Urlaub. Bis die Wirtschaftskrise kam, 2008. Seit elf Jahren steht nun ein Rohbau im Garten, ein Skelett eines Traumes. Im Keller sammelt sich das Wasser, im Dach wohnen die Spinnen. Der Garten wächst Jahr für Jahr weiter ins Innere des Hauses.
Wenige Kilometer entfernt geht Ema Staicut durch die Straßen ihrer Kindheit und Jugend. Staicut ist am liebsten zu Fuß unterwegs, auch wenn sie bis zum Treffen mit ihren Freundinnen, von denen immer eine auch gerade zu Besuch in der alten Heimat ist, anderthalb Stunden gehen muss. So hat sie Zeit für die Erinnerungen, die am Wegesrand liegen: die Brücke als Treffpunkt der Schulschwänzer, der Park mit den Partys zwischen den hohen Platanen, die Bushaltestelle der unzähligen Wartestunden. Vor der Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen, dem Wahrzeichen der Stadt, bleibt sie kurz stehen: „Von hier sieht man noch die Einschusslöcher in den Fassaden“, sagt sie, und zeigt auf die riesenhaften Jugendstil- und Barockbauten, die den Opernplatz säumen.
Hier fielen am 17. Dezember 1989 die ersten Schüsse, schloss die Kirche vor den Flüchtenden die Tore. Innerhalb weniger Tage schwoll der Protest einer Handvoll Wütender zum Massenaufstand an. Sie plünderten Geschäfte und verbrannten die Bücher des Diktators Ceauşescu, dessen Misswirtschaft das Land in Armut geführt hatte. Am folgenden Sonntag standen Panzer in Flammen, das Kreisparteikomitee wurde gestürmt, Ceauşescu erteilte den Schießbefehl, er floh – und wurde am ersten Weihnachtsfeiertag 1989 um 14.50 Uhr hingerichtet.
Mit dem Tod Ceauşescus war die Hoffnung auf ein besseres Leben geboren. Doch an der Korruption hat sich 30 Jahre später kaum etwas geändert. Erst im Mai wurde der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Liviu Dragnea, wegen einer Scheinbeschäftigungsaffäre zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Verhaftung wurde – wie einst der Sturz Ceauşescus – live im Fernsehen bejubelt.
„Ich wollte nie gehen“, sagt Ema Staicut und streicht sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Wenn man sie aus der Ferne zwischen ihren Freundinnen umherspringen und herumalbern sieht, könnte man sie für ein Kind halten. Mit jedem Schritt aber, mit dem man sich ihr nähert, weicht das Bild des Kindes, und vor einem steht eine junge Frau, die zwar von kleiner Statur ist, aber eine große Kraft ausstrahlt.
Lange Zeit habe es ihr in Timișoara an nichts gefehlt: Ihre Mutter, die als Schneiderin arbeitete, hat sie alleine großgezogen, der Vater ging, bevor sie ihn kennenlernen konnte. Die kleine Familie hatte nicht viel Geld, aber sie kam zurecht. Ema Staicut war eine gute Schülerin, die sich für Musik, fürs Theater begeisterte. Mit ihrer Schultheatergruppe trat die damals 14-Jährige auf Festivals in ganz Rumänien auf. Doch auch ihr Leben änderte sich von einem Tag auf den anderen.
„Meine Mutter bekam ein Angebot, als Pflegekraft in Italien zu arbeiten. Sie musste sich sofort entscheiden“, sagt Staicut. „Sie fragte mich, ob ich damit einverstanden wäre.“ Staicut lacht auf: „Natürlich stimmte ich zu: Ich war 16 und wollte meine Freiheit genießen!“ Was das für ihr Leben bedeuten würde, wussten beide Frauen nicht. „Dass ich tief in mir drin das Gefühl hatte, verlassen worden zu sein, erkannte ich erst viel später“, sagt Staicut. Die Mutter ging nach Italien, die Tochter blieb. Sie telefonierten viel. „Manchmal sagte sie, dass sie das alles nur für mich tat“, erzählt Staicut. „Das habe ich aber nie angenommen. Es war ihre Entscheidung, und ich wollte dafür nicht verantwortlich sein.“
Die Mutter sprach kaum mit ihr über die Zeit der Revolution. Heute spricht ihre Mutter nur trocken davon, dass man für einen wirklichen Neuanfang „die da oben“ umbringen müsse. Auch der Tochter hat das Aufwachsen mit all den Lügen das Vertrauen in die Politik zerstört. Den rumänischen Medien traut sie nicht. „Ich versuche, den Menschen aufmerksam zuzuhören, zu verstehen, was sie bewegt. Auf ihre Geschichten stütze ich mich.“
Andrea Wolfer indes wuchs mit dem Gedanken auf, dass nicht Menschen oder Institutionen, sondern das Land entscheidend für ein gutes Leben sei: Sie gehöre nicht nach Rumänien, sondern nach Deutschland, so wurde es ihr beigebracht. Wenn Kindern von Anfang an die finanziell vielversprechendsten Sprachen Europas gelehrt werden, auf dass sie es einmal besser haben und dorthin gehen, wo das Glück zu finden ist, Deutschland, Großbritannien, Frankreich – alles, nur nicht Rumänien. Andrea Wolfer ist ein solches Exportkind. Entgegen jeder Tradition bekam sie den mütterlichen Nachnamen – für einen leichteren Absprung aus der Heimat. Der Besuch der deutschen Schule war gesetzt.
In ihrer Erziehung nahm sie einen Unterton wahr, den sie als Kind schwer deuten konnte, erzählt Wolfer: Sie sei etwas Besseres als die anderen. Das Gefühl, zum Gehen bestimmt zu sein, trennte sie von ihrem Umfeld. „Ich bin in einer Blase aufgewachsen“, sagt sie heute.
Wie jedes gute Kind lehnte sich Andrea Wolfer irgendwann aber gegen ihre Eltern auf. Während diese Auflehnung bei anderen zum Weggehen führt, trat bei dem Exportkind das Gegenteil ein – es blieb, trotz aller Erwartungen der Eltern. Und das, obwohl der EU-Beitritt Rumäniens 2007 alles leichter gemacht hatte und viele ihrer Freunde das Land verließen. „Rationale Gründe, zu gehen, genügten mir nicht. Ich konnte das Aufbrechen einfach nicht spüren“, sagt sie. Stattdessen zog sie in das Häuschen ihrer Großtante neben der Ruine der Eltern und schaffte sich dort ein Zuhause.
Wolfer sagt, in dieser Zeit lernte sie, Rumänin zu sein: „Leidenschaftlich, begeisterungsfähig, wie eine Welle, die über einen drüber schwappt, ohne zu fragen, ob es gerade passt.“
Wolfer studierte Schauspiel in Timișoara, arbeitete am Deutschen Theater als Dramaturgin, betrieb für einige Jahre ein Kunstzentrum in einer verlassenen Zigarettenfabrik. Heute verdient sie ihr Geld mit Übersetzungen, mit deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheaterkursen, mit Deutschunterricht für Kinder. Wolfer bildet die Exportkinder der nächsten Generation aus.
Anders Ema Staicut. Als ihre Mutter ins gelobte Ausland ging, wurden für die Tochter Freunde umso wichtiger. Sie halfen der damals 16-Jährigen über das Alleinsein hinweg. Timișoara vibrierte, und sie und ihre Freunde genossen den Puls der Stadt. Als sie mit der Schule fertig war, verließ sie gemeinsam mit ihrer Clique die Stadt. Zehn junge Menschen, die voller Hoffnung nach Großbritannien aufbrachen. „Meine Mutter war noch immer in Italien, es gab nichts, was mich gehalten hätte.“ An den Moment des Aufbruchs kann sie sich nicht erinnern. Sie ging nach Canterbury, studierte Performing Arts. Ein Schauspielstudium in Rumänien konnte sie sich nicht vorstellen – „um Karriere zu machen, muss man hier immer die richtigen Leute kennen. Und freundlich zu ihnen sein. Auf so was hatte ich einfach keine Lust.“
Und Ema Staicut machte Karriere, sie arbeitete an Produktionen in London mit und machte sich als Performerin einen Namen in der freien Szene. Als sie eine feste Stelle als Schauspielerin an einem Stuttgarter Theater bekommt, hat sie genau das erreicht, wofür die Exportkinder ausgebildet werden: einen festen Job in Deutschland. Doch im Gegensatz zu Andrea Wolfer war Ema Staicut nicht zum Ankommen in Deutschland erzogen worden. Heute verbringt sie einen Teil des Jahres in Thailand, spielt an verschiedenen Theatern in Stuttgart und lebt aus dem Koffer.
Die als Exportkind erzogene Andrea Wolfer entschied sich gegen den Mobilitätsdruck, blieb in ihrem Häuschen am Stadtrand Timișoaras wohnen. „Manche nennen mich eine Patriotin, weil ich geblieben bin, weil ich in den Augen der Leute alte Werte hochhalte“, sagt sie und verdreht die Augen. Das Gegenteil sei der Fall: „Ich will, dass Rumänien ganz anders wird, als es heute ist. Deshalb bleibe ich. Ich kämpfe für eine andere Normalität.“
Wer Andrea Wolfers Kampf verstehen will, der muss sie beim Radfahren erleben. Ihr Häuschen liegt am Stadtrand. Um in die Innenstadt zu kommen, fährt sie jeden Tag am Ufer der Bega entlang, vorbei an den zugewucherten Fabrikruinen, an den verrotteten Schwimmbädern aus besseren Zeiten und den zerfallenden k. u. k. Prachtfassaden. Wolfer wirkt zuweilen fahrig, doch im Sattel ihres Rennrads ist sie konzentriert, ihre Bewegungen sind geschmeidig. Sie kennt die Straßen Timișoaras gut, in jeder Straße kommentiert sie Neuerungen. An der Straße neben dem Opernplatz wird der begrünte Straßenrand aufgerissen – Wolfer schimpft: „Die Stadt erstickt, und sie beschneiden die Wurzeln der Bäume.“ Auf dem Gehweg beim Piața Mărăști bekommt ein großer Geländewagen einen Strafzettel – Wolfer ruft: „Richtig so, endlich passiert hier mal was!“
Sie organisiert die „Critical Mass“ in Timișoara, eine Fahrraddemonstration, die es auch in vielen Städten weltweit gibt. Sie protestieren einmal im Monat für die Verkehrswende, für eine lebenswerte Stadt, die von den Bürgern und nicht den politischen Eliten gestaltet wird. Jeden Monat verliert sie Mitstreiterinnen, die es leid sind, gegen Mauern zu rennen, und ins Ausland gehen. Wolfer hat ihnen keine Argumente entgegenzusetzen. Sie macht trotzdem weiter.
Als 2017 wieder Massen auf die Straßen gehen, um gegen korrupte Politiker zu demonstrieren, geht auch Wolfer mit. Sie vergisst das Essen, das Schlafen, ist euphorisiert von der Hoffnung, dass endlich alles besser werden würde. Sie ist jeden Tag auf den Beinen, mobilisiert, demonstriert vor dem EU-Parlament in Brüssel. Doch kurz darauf trifft sie und ihre Mitstreiter die Ernüchterung mit voller Härte. „Wir waren naiv, wir dachten, wir bringen mit ein paar Demos die Regierung zu Fall“, sagt Andrea Wolfer heute. Ihr und vielen Mitstreitern wurde klar, wie wenig sie über das politische System ihres Landes wussten. Warum gingen sie nicht wählen? Warum glaubten sie nicht an Parteien? Warum fühlten sie sich so machtlos? „Uns wurde klar, wie sehr die Vergangenheit weiterwirkt.“ Manchmal spricht sie davon, die nächste Bürgermeisterin vom Stadtteil Freidorf zu werden. Nur halb im Scherz. „Wir leben hier viel in unseren Träumen“, sagt sie.
Als Ema Staicuts Mutter aus Italien wiederkehrt, hofft sie, dass auch ihre Tochter wieder in Timișoara Fuß fassen würde – doch die hat sich längst von ihrer Heimat gelöst. Beide mussten lernen, dass man Familie nicht einfach pausieren und später wieder aufsetzen kann. Die Mutter, nun Rentnerin, muss ihr Leben neu erfinden, die Tochter taucht nur ab und an als Besucherin auf. „Ich kann nicht nur für sie zurückkommen – so, wie sie nicht nur für mich bleiben konnte.“
Staicut sei mit ihrem Leben als Reisende versöhnt, sagt sie: Trotzdem hat sie einen Traum, den sie gemeinsam mit ihren rumänischen Freunden, die auf der Welt verstreut leben, träumt: Sie haben ein Stück Land in Zentralrumänien, auf dem sie sich Hütten bauen wollen. Jeder eine, aber alle zusammen. „Wir wollen gemeinsam in der Natur alt werden“, sagt Staicut.
In diesem Sommer, 30 Jahre nachdem der Umsturz in ihrer Heimatstadt losbrach, beginnen Ema Staicut und ihre Freunde, an ein Zuhause in Rumänien zu glauben. Sie hoffen, dass junge Menschen wie Andrea Wolfer so lange die Stellung halten.
Holger Fröhlich, 36, ist Autor der taz am wochenende.
Julia Lauter, 33, ist Autorin der taz am wochenende.
Die Recherche der AutorInnen wurde mit dem Recherchepreis Osteuropa gefördert.
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