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Ausbruch aus der Nostalgieschleife

Statt Zwanziger-Jahre-Rückschau stünden Berlin mehr Gegenwartsoptimismus und eine visionäre linke Ästhetik gut

Dame und Herr tanzen den Black Bottom, 1926 Foto: Ullstein

Von Julia Lorenz

Es ist ja nicht zu vermeiden gewesen. Im Admiralspalast bringt man, pünktlich zum Ausklang des alten Jahrzehnts, unter dem Titel „Berlin Berlin“ eine Revue über die Zwanziger in Berlin auf die Bühne. Auf dem Plakat zur Show lümmelt lasziv ein quarzendes Flappergirl in einem Halbmond. Wenn nun zum dutzendsten Mal die Ära von Marlene Dietrich und Josephine Baker gefeiert wird, mögen viele Neunmalkluge zunächst einmal einwenden, dass die „neuen 20er“ ja eigentlich erst 2021 beginnen. Viel grundsätzlicher aber könnte man sich fragen: Warum das hundertste Jubiläum einer Dekade begehen, die in Berlin ohnehin dauerpräsent ist?

Die Absinth- und Charleston-Folklore ist fester Bestandteil des Stadtmarketings. Vor allem während des nun scheidenden Jahrzehnts träumte man sich besonders gern in die wilde Zeit zwischen den Weltkriegen, in der Berlin die weltläufigste aller Weltstädte war, kulturell lebendiger, in seiner Lebens- und Feierkultur progressiver als Paris oder New York, eine Heimat für florierendes intellektuelles, (früh)feministisches und jüdisches Leben – und für queeres obendrein: Das „Institut für Sozialwissenschaft“, gegründet 1919 von Magnus Hirschfeld, erforschte Trans-Identitäten, weshalb ihm der Komponist Mischa Spoliansky und der Schriftsteller Kurt Schwabach 1920 das „Lila Lied“ widmeten – eine frühe Hymne der queeren Bewegung.

In den vergangenen zehn Jahren befassten sich Ausstellungen in wichtigen Häusern wie der Berlinischen Galerie („Wien – Berlin“) oder dem Ephraim-Palais („Tanz auf dem Vulkan“) Kunst und Lebensart der 20er.

Firmen und hippe Start-ups – jüngst die Likörreihe „Berliner Mampe“ – warben mit dem Mythos Weimar. Tom Tykwers „Babylon Berlin“ wurde zum Medien­ereignis. Zu Beginn der 2010er-Jahre kam das Twenties-Revival sogar in der Partyszene mit dem Holzhammer: In Hosenträgern und Glitzerkleidern feierten Easyjetter neben Berliner Technopeople zum „Electroswing“ von DJs wie Parov Stelar. Und letztlich referenzierte auch die überbordende Ästhetik, die revuehafte Dekadenz der jüngst aufgelösten Berliner Partygruppe Bonaparte, die einst dem Kosmos um die Bar25 entstiegen war, seit den nuller Jahren den lasterhaften Glamour der geliebten Twenties.

Es scheint, je mehr das Berliner Laissez-faire durch Gentrifizierung bedroht wurde, desto stärker musste man sich seines Erbes als Hauptstadt des Eigensinns versichern. Eine Erfindung der letzten Dekade ist diese Nostalgie aber nicht: Keine Stadt verachtet ihre Gegenwart so leidenschaftlich wie Berlin. So paradox es scheint – aber gerade eine Metropole, die sich ihrer Progressivität rühmt, träumt sich permanent zurück in wildere, (vermeintlich) glänzendere Zeiten.

Wer was auf sich hält, ist sich in Berlin demonstrativ bewusst darüber, zu spät gekommen zu sein. Das neue Jahrtausend war noch kein Jahr alt, da begann mit Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ breitenwirksam die Historisierung und Romantisierung der „Insel Westberlin“. In den späten nuller Jahren sehnte man sich nach dem unfertigen, rauen Berlin der 90er, heute nach Mieten, die niedrig sind wie vor zehn Jahren. Und wer zu jener Zeit, vor knapp zehn Jahren also, in die Stadt kam, musste sich anhören, das Beste knapp verpasst zu haben: Besagte Bar25, ein identitätsstiftender Ort für die Stadt, war leider gerade geschlossen worden.

„Entwicklung“ istin Berlin überschrieben mit „Gentrifizierung“

Was blüht der Stadt also, wenn sich nun die 20er, auf ewig der Stolz Berlins, zum 100. Mal jähren?

Zumindest keine „Weimarer Zustände“. Trotz offensichtlicher Parallelen – politische Polarisierung, sichtbare Armut, Stadtwachstum, die Erosion sozialer Gewissheiten – ist die historische Parallele alarmistisch. Und taugt schon deshalb nicht, weil weder die ökonomisch-politische Situation in Deutschland noch die Verfassung dem Vergleich mit Weimar standhalten.

Warum sich die Twenties außerdem nicht wiederholen lassen: Die Zukunftsgläubigkeit, der Futurismus, der die 1920er beseelte (ehe er zum Teil ins reaktionäre Gegenteil umschlug) und uns bis heute fasziniert, trägt nicht mehr – auch, weil der Glaube ans Gute am technischen Fortschritt spätestens in den 2010er Jahren mit Edward Snowdens NSA-Enthüllungen seine Unschuld verloren hat. Hinzu kommt, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem Unternehmer und Wachstumsapologeten das Reden über die „Stadt der Zukunft“ übernommen haben. „Entwicklung“ ist in Berlin überschrieben mit „Gentrifizierung“ – und daher kein linkes Lieblingsschlagwort. Statt Retrokitsch und Reflexionen über die Kokainräusche der 20er und das „Risiko“ der 80er braucht es eine neue Ästhetik für linke Visionen in Berlin, braucht es einen Ausbruch aus der Nostalgieschleife, das Ende der Gegenwartsskepsis. Immerhin: Das einfallslose „Electroswing“-Revival haben wir ja schon überstanden.

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