Aktuelle Musik aus Brasilien: Songs voller Wut und Liebe
Alte Heldinnen und die junge Generation Brasiliens: Die neuen Alben von Elza Soares, Liniker e os Caramelows, Bia Ferreira, Duda Beat und Dona Onete.
„Worauf hast Du Hunger?“, fragt Elza Soares am Ende ihres neuen Albums. Es ist eine Anspielung auf ihre eigene Geschichte – und den Titel der Platte: „Planeta fome“. Von welchem Planeten sie denn komme, hatte der Moderator die junge Elza beim Gesangswettbewerb im Jahr 1953 gefragt, weil sie so ärmlich gekleidet auf die Bühne trat. Vom „Planeta fome“, dem „Planeten Hunger“, antwortete Elza. Damals war sie schon sechsfache Mutter – zwei ihrer Kinder waren allerdings an Unterernährung verstorben.
66 Jahre später ist Elza Soares eine Ikone. Und gerade hat die inzwischen ungefähr 89-Jährige ihr 34. (!) Album vorgelegt. Um es vorwegzunehmen: Es ist eine tolle Platte. Schon ihr Vorgänger „Deus é mulher“ („Gott ist eine Frau“, 2018) wurde zurecht gelobt. Für „Planeta Fome“ ist Soares aus der Alternativszene São Paulos in ihre Heimat Rio de Janeiro zurückgekehrt, um mit Lokalgrößen wie dem Rapper BNegão und Bands wie BaianaSystem und Orkestra Rumpilezz von außerhalb Rios zu kooperieren.
Gleich zum Einstieg wird mit dem Song „Libertação“ klar gestellt, worum es ihr geht: um Befreiung. Es folgen elf Songs, zum Teil härterer Crossover, zwischendurch gibt es aber auch einen Accapella, Reggae oder funky Stücke wie „Não tá mais de graça“. Ihrer Reibeisen-Stimme merkt man das Alter durchaus an. Elza gibt die zornige Punk-Oma, die die Hosen anhat und noch so einiges zu sagen, bevor sie sich verabschiedet.
Hunger auf anderes
Es geht um die notorischen sozialen Ungerechtigkeiten Brasiliens, um Rassismus, Straßenkinder und „Chega!“, dass „Es reicht!“ und sich endlich etwas ändern müsse. Gleichzeitig spendet Elza Soares Hoffnung: „Ich habe das ganze Leben gegen den Hunger gekämpft“, trotzdem habe sie heute noch unermesslichen Appetit. Nur auf anderes: „auf Gesundheit, Respekt, Würde oder darauf, dass unsere Lehrer anständig behandelt werden.“
Dona Onete: „Rebujo“ (2019, Mais Um Discos/Indigo). Die anderen Alben sind nur digital über Streamingdienste erhältlich: Elza Soares: „Planeta fome“ (2019, Deck) Liniker e Os Caramelows: „Goela Abaixo“ (2019) Bia Ferreira: „Igreja Lesbiteriana: um Chamado“ (2019) Duda Beat: „Sinto muito“ (2018)
Beim „Rock in Rio“-Festival hat Elza vor Kurzem wieder ihren Song „Maria da Vila Matilde“ angestimmt: „Wo ist mein Telefon? Ich ruf´ die Nummer 180 an.“ Das ist die neue Hotline, an die sich Frauen bei häuslicher Gewalt wenden können. Denn Brasilien gehört zu den Ländern mit einer der weltweit höchsten Mordrate an Frauen – wie auch an LGBTQ-Personen und schwarzen Jugendlichen –, und die menschenverachtende Rhetorik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro verschärft das gesellschaftliche Klima nur.
Doch hat die Linke nach der Haftentlassung von Brasiliens Ex-Präsidenten Lula immerhin wieder Auftrieb. Ohnehin gibt es in Brasilien eine wachsende Zivilgesellschaft und Minderheiten, die ihre Rechte einfordern – von der Landlosenbewegung MST über die Afrobrasilianer und die LGBTQ-Community bis zu Medieninitiativen in Favelas und freigeistigen Künstler:innen in den Metropolen und Subzentren des riesigen Landes. Darunter sind zunehmend Frauen. Und manchen ist Elza Soares ein Vorbild, etwa der transsexuellen Sängerin Liniker.
Anleihen an psychedelischen Tropicália
Statt auf Wut und Empörung setzt Liniker mit ihrer siebenköpfigen Band Os Caramelows („Die Bonbons“) aber auf Zuneigung und Liebe. Für ihr zweites Album „Goela Abaixo“ („Die Kehle hinunter“) – eine Mischung aus sanften Soul, R&B, Jazz und Anleihen an psychedelischen Tropicália – wurde die 24jährige aus Araraquara im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo für den Latin Grammy nominiert. Veröffentlicht wurde das feine Album ohne Label im Eigenvertrieb, wie es in Brasilien mittlerweile verbreitet ist.
Statt Parolen zu proklamieren, singt Liniker auf „Goela Abaixo“, mit einer vornehmlich tiefen und samtenen Stimme, lieber über innige Umarmungen, prasselnden Regen, zwei verliebte Frauen oder über Küsse, die man sich aufgespart hat. Doch Liniker weiß, dass schon der Akt, als transsexuelle Afrobrasilianerin auf einer Bühne zu stehen, politisch ist. Allein fühlt sie sich allerdings nicht – sie werde von „vielen Stimmen“ unterstützt.
Bia Ferreira gibt sich da kämpferischer: Die schmale 26jährige Sängerin nennt sich „Artivista“ – eine Mischung aus Künstlerin und Aktivistin – und ihre Musik „MMP“ („Música de Mulher Preta“, „Musik der Schwarzen Frau“). Wenn Ferreira mit ihrer Akustikgitarre auf einem Barhocker thront, ihr Haar kunstvoll in ein Tuch gebunden, mag man an Tracy Chapman oder Joan Baez denken. Doch es sind keine lieblichen Töne, sondern so wütende wie poetische Wortkaskaden, mit denen sich Ferreira einen Namen gemacht hat.
Als Jugendliche schrieb sie bereits den Song „Cota não é Esmola“ – „Die Quote ist kein Almosen“. Gemeint sind die Quoten für dunkelhäutige, indigene und einkommensschwache Brasilianer im öffentlichen Hochschulwesen. Als die Regierung Bolsonaro im Vorjahr nicht nur sozialwissenschaftliche Studienfächer abschaffen wollte, sondern auch das Quotensystem, ging ein Video von Ferreiras „Cota não é Esmola“ viral.
Auf ihrer ersten Platte „Igreja Lesbiteriana: um Chamado“ hat Bia Ferreira jetzt ihre Spoken-Word-Raps mit einer sparsamen Instrumentierung unterlegt. Das lässt ihrer klaren Stimme Raum, doch ist das Album insgesamt zu glatt produziert. Als Anhängerin eines intersektionalen Feminismus lädt Bia auf der Platte alle, ungeachtet ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung, unter das Dach ihrer „lesbetarianischen Kirche“ ein. „Ich bete dafür, dass eine Frau zur nächsten Präsidentin Brasiliens wird.“ Sich als Künstlerin gesellschaftlich einzumischen, empfindet Bia als Pflicht: „Wer schweigt, macht keine Kunst, sondern bei Brot und Spiele mit.“
Schweigen konnte auch Duda Beat nicht mehr. Der blonden Sängerin aus Recife ging es nach mehreren unglücklichen Beziehungen aber um verletzte Gefühle, vergebliche Liebesmühen und die kurzen Momente des Glücks. Im Vorjahr veröffentlichte Duda Beat ihr Debüt „Sinto muito“ („Tut mir leid“). Seither gilt sie mit ihrem Reggae-Dream-Pop als Königin der „Sofrência“ – ein Genre, das sich dem Leiden („sofr-imento“) und den Entbehrungen („car-ência“) der nach Liebe dürstenden Menschen verschrieben hat.
Zwischenmenschliche Wärme
Herzerweichende Musik einer Sängerin, die sich nach zwischenmenschlicher Wärme sehnt: „Sich nicht binden zu wollen, ist ein Symptom unserer Zeit“, sagt die 29jährige Duda Beat. „Ich bin Romantikerin und mag es, Beziehungen mit anderen einzugehen.“ Sie respektiere alle Formen von Liebe, „wichtig ist es allein, zu lieben“ – ohne sich dabei selber zu vergessen: Zur Hymne für Frauen, die ihre sie malträtierenden Männer verlassen haben, wurde ihr Song „Bolo de Rolo“ mit der Zeile „Ich werde das Glück in keinem anderen mehr suchen“.
Duda sieht sich als Feministin als auch in der Tradition des Mangue Beat – darum der Zusatz „Beat“ in ihrem Namen. Die von Chico Science und seiner Band Nacão Zumbí angeführte Bewegung kreuzte Anfang der 1990er Jahre im Nordosten Brasiliens Metal mit Rap, griff globale Trends auf und verwob sie mit lokalen Stilen Pernambucos, etwa den tiefen Trommeln des Maracatú. Wenn man sich das kurze Mangue-Beat-Manifest mehr als 25 Jahre nach dem Erscheinen anschaut, fällt auf, wie aktuell es ist: Es beschreibt die Stadt Recife als einen lebendigen Organismus, der auf dem ausgeklügelten wie fragilen Ökosystem der Mangrovenwälder beruht.
Dona Onete hat ein anderes – ebenfalls gefährdetes – Naturwunder fast zweitausend Kilometer weiter nördlich von Recife inspiriert: die Wasserwelt am Amazonas-Delta, wo sie auf der anderen Seite der Stadt Belém geboren wurde und schon als Kind für die Flussdelphine gesungen hat. Mit einer ähnlich knarzigen Stimme wie Elza Soares singt die meist farbenprächtig kostümierte Diva nun auf ihrem neuem Album „Rebujo“ mit ihrer Band unter der Leitung des Gitarristen Pio Lobato – ein Meister des Guitarrada-Stils – über Piranhas und Haie („Festa do Tubarão“), afrikanische Gottheiten („Tambor do Norte“) oder ein Kräuterbad, das böse Geister vertreibt („Mistura Pai d´Égua“).
Unterlegt ist das mal mit Cumbia, Samba und kitschigen Brega, aber überwiegend mit lokalen Tanzrhythmen wie Carimbó und Bengúe, die so schön nach vorne rumpeln wie Ska oder Polka. Dona Onete war eigentlich Professorin für Geschichte und Amazonas-Studien und hat den größten Teil ihres Lebens die musikalische Vielfalt der Region erforscht. Als Sängerin entdeckt wurde sie so spät wie zufällig – sie war bereits 73 Jahre, als sie ihre erste Platte aufnahm. Dann tourte sie um die Welt. Nun steht sie als 80jährige in den Weltmusikcharts ganz oben.
Das Album ist eine Verneigung vor Mutter Erde und der großen Lebensquelle der Region, dem Amazonas. Das ist umso wichtiger, als zuerst im Sommer der Wald – oft durch absichtlich gelegte Brände – in Flammen aufging und aktuell die Küste des Nordostens auf tausenden von Kilometern von einer mysteriösen Ölpest heimgesucht wird. Dabei sei die Natur ein heiliger Ort, sagt Dona Onete. „Meine Energie, die kommt vom Fluss.“
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