Wohnungslosenhelfer über Abschied: „Ich schleiche mich raus“
Unbürokratische Hilfe für Obdachlose: Das ist ein Traum von Bertold Reetz. Darum muss sich künftig aber sein Nachfolger kümmern.
taz: Herr Reetz, was hat sich im Bereich der Wohnungslosigkeit in den letzten drei Jahrzehnten in Bremen geändert?
Bertold Reetz: Die Not und das, was man erlebt, wenn man auf der Straße lebt – man hat kein Hausrecht und ist sozusagen „öffentliche Person“ – sind gleich geblieben, aber in den letzten Jahren ist mit Menschen aus Osteuropa eine neue Personengruppe hinzugekommen. Diese Menschen erhoffen sich, Arbeit zu bekommen und Wohlstand, müssen sich aber prostituieren oder auf den „Arbeitsstrich“ in Walle gehen, damit sie überhaupt ein paar Euro in der Tasche haben. Etliche von ihnen verkaufen die Zeitschrift der Straße – die leben davon, das ist für sie ganz wichtig, denn sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen.
Aber trotzdem sollten sie nicht auf der Straße leben müssen …
Richtig, denn sie haben ein Recht auf Unterbringung – das hat mit Sozialleistungen nichts zu tun. Hier in Bremen dürfen die Menschen ab einer bestimmten Temperatur auch in die Notunterkünfte, das ist schon mal gut. Wenn ich hier irgendetwas zu sagen hätte, würde ich einen Platz organisieren, zum Beispiel den alten Campingplatz am Unisee und würde da gebrauchte Bauwagen hinstellen, Security, die aufpasst, und einen Träger, der die Verantwortung übernimmt – und dort könnte dann wohnen, wer will, ohne Anträge, ohne Kostenübernahme.
Wie viele Menschen leben in Bremen auf der Straße?
Bertold Reetz, 65, ist Diplom-Heilpädagoge und seit 1996 Bereichsleiter für die Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission, für die er 30 Jahre gearbeitet hat. Er war dort daran beteiligt, die Langzeitpsychiatrie Blankenburg bei Oldenburg aufzulösen und ging mit den Patienten nach Bremen. Am Donnerstag wurde er offiziell in den Ruhestand verabschiedet, bleibt aber Geschäftsführer der ambulanten Suchthilfe und lehrt weiterhin Soziale Arbeit an der Hochschule Bremen.
Ich gehe davon aus, dass es insgesamt 600 bis 700 sind. Die Zahl ist gestiegen und zwar auch, weil Wohnungen luxussaniert werden, die Mieten steigen und das einen Verdrängungsmechanismus nach unten auslöst. Das heißt, dass jene, die mühselig gerade noch in der Lage waren, ihre Wohnung zu erhalten, jetzt rausfallen. Hinzu kommt, dass Sonderwohnformen wegfallen wie die Reihersiedlung in Gröpelingen. Dort haben ja immer Menschen gewohnt, die nicht in irgendeinem „normalen“ Wohnhaus leben können, ohne dass es Konflikte gibt. Dort aber kamen die klar, für die war das gut – auch wenn uns die Zustände dieser Wohnungen unzumutbar erscheinen mögen.
Was ist mit ihnen passiert?
Sie leben teilweise jetzt auf der Straße. Es gibt ja auch immer Menschen, die nicht in Notunterkünfte oder in betreute Wohnformen wollen, weil sie ihre Autonomie behalten wollen. Ich fand es deswegen eigentlich auch ganz schön, dass die Menschen am Güterbahnhof sein konnten – bis der dann aber „gesäubert“ wurde, leider.
Jetzt soll das Konzept „Housing First“ als Pilotprojekt auf den Weg gebracht werden – woher sollen Wohnungen dafür kommen?
Das frage ich mich auch. Mein Traum ist natürlich auch, zum Streetworker zu sagen: Jonas, ich hab hier fünf Wohnungen, hast du fünf Leute von der Straße, die sie wollen? Aber selbst damit wäre es ja nicht getan. Denn so eine Wohnung muss in Ordnung gehalten werden, Hausordnungen müssen eingehalten werden – ohne Betreuung ist das kaum möglich. Deswegen fände ich das Prinzip der Schlichtwohnungen besser, um die Leute von der Straße zu holen. Es muss Sonderwohnformen geben – aber mit Mietvertrag, mit normalen Hausrechten, einer normalen Kündigungsfrist, das ist ganz wichtig.
Was hat sich im Bereich der Hilfen für Wohnungslose in Ihrer Amtszeit getan?
Der Frauen-Tagestreff „Frauenzimmer“ und die Notunterkunft für Frauen sind entstanden, wir haben wesentlich mehr Streetworker bekommen, weil wir gesehen haben, dass wir sonst an den Menschen vorbeiarbeiten. Dann sind die Treffs entstanden wie in Gröpelingen am Sedanplatz, in der Neustadt am Lucie-Flechtmann-Platz, dann das Café Papagei – und das Sahnestück ist der neue Szenetreff am Hauptbahnhof.
Das ist nicht Ihr Ernst?
Nein, natürlich nicht. Aber es gab keine Alternative dazu. Es hätte entweder diesen Treff gegeben oder gar keinen. Ich finde, der Ort sieht gar nicht mehr so schlimm nach Käfig aus – und er hat jetzt auch eine ordentliche Toilette. Da haben wir zwar viele Problemen mit Drogenabhängigen, aber die Leute sagen, sie kommen gerne dorthin, weil sie ihre Ruhe haben und die Polizei sie nicht ständig kontrolliert.
Der Zaun um den Treff wird abends abgeschlossen. Warum?
Wir haben versucht, ihn geöffnet zu lassen. Am Szenetreff in Bremen-Nord funktioniert das auch – aber am Bahnhof war das eine Katastrophe. Die Leute dort sind härter drauf als in Nord, vor allem die, die später am Tag da sind. Die buddeln da alles um, das ist richtig schlimm. Da sind Drogen wie Crack im Spiel und da kann man nicht mehr an die Vernunft appellieren – aber solange die Streetworker da sind, läuft das eigentlich gut.
Kann der geplante Druckraum die Situation verbessern?
Bestimmt. Aber zu glauben, dass man deswegen niemanden mehr am Wall sieht, der sich eine Spritze setzt, wäre illusorisch. Aber es wäre ein erster Schritt zur Entlastung. Eigentlich bräuchte Bremen schon lange einen Druckraum, aber ich würde das nur befürworten, wenn die Finanzierung des Raums nicht zu Lasten der normalen Drogenberatung geht. Das eine ist, Elend zu verwalten, was man leider auch muss, aber der Schwerpunkt muss in Prävention und Beratung liegen. Das kostet Geld und ein Druckraum kostet ebenfalls viel Geld.
In Bremen dreht sich immer alles ums Geld und auch Sie mussten ja immer schauen, wie Sie Ihre Projekte finanziert bekommen. Ist das nicht frustrierend?
Wir bekommen sehr viele Spenden und Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Kirchen engagieren sich, Rotarier oder der Lions Club unterstützen uns. Und die Zusammenarbeit mit den politischen Akteuren ist auch immer gut und konstruktiv gewesen, trotz des Geldmangels. Deswegen ist die Arbeit keineswegs frustrierend, sondern sie macht Spaß. Und manches, von dem man dachte, es funktioniert nicht, klappt irgendwann doch. Wir haben zum Beispiel keinen Cent für das „Frauenzimmer“ bekommen und das dann spendenfinanziert eröffnet und 15 Jahre lang auch so betrieben – und jetzt wird ein Teil davon endlich finanziert. Manchmal muss man auch als Träger in Vorleistung gehen.
Welches der Projekte, die Sie umsetzen konnten, hat Ihnen besonders am Herzen gelegen?
Die Grabstätte für Obdachlose, die es seit 2012 auf dem Friedhof Walle gibt, war eine Herzensangelegenheit von mir. Bis es die gab, wurden die Menschen anonym in Urnen auf Gräberfeldern beigesetzt, ohne Namen, ohne Grabstein. Freunde oder Angehörige hatten also kein Grab, das sie besuchen konnten. Auf dem Stein der Grabstätte liegt für jeden Verstorbenen ein steinernes Buch mit seinem Namen darauf. Mittlerweile gibt es über 50 Bücher.
Sie haben 2015 zusätzlich auch noch den Bereich „Migration und Flucht“ übernommen – war das nicht ein bisschen viel?
Ja, da bin ich wirklich an meine Grenzen gekommen. Da wurden von einem Tag auf den anderen Turnhallen angemietet, über Nacht mussten komplette Unterkünfte für die Geflüchteten bereitgestellt werden. Das war wirklich Wahnsinn. Aber es hat Spaß gemacht, weil es funktioniert hat und die Zusammenarbeit mit der Behörde sehr gut war. Ich war früher Leistungssportler, vielleicht habe ich deswegen Spaß daran, zu kämpfen und nach vorn zu schauen. Und ich fand das System hier in Bremen sehr gut, dass gesagt wurde: Niemand, der geflüchtet ist, muss auf der Straße wohnen. Heute befinden sich noch fünf Wohnheime in unserer Trägerschaft und wir haben Beratungsangebote, aber den Bereich habe ich schon im Sommer abgegeben – ich schleiche mich so langsam raus.
Und Ende des Monats ist dann ganz Schluss …
Fast. Ich bin ja auch noch Geschäftsführer der ambulanten Suchthilfe und das werde ich auch bleiben. Ich brauche wohl einen schrittweisen Übergang zum Nichtstun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen