Kurden im Krieg: Zwischen Erdoğan und Assad
Über 12.000 Menschen sind aus den kurdisch kontrollierten Teilen Syriens in den Nordirak geflohen. Ein Besuch im Lager Bardarasch.
T amara Badran ist nur zwei Tage älter als der Krieg. Sie schläft den Schlaf der Neugeborenen in einem rosa Kuschelkissen unter einer Zeltplane im Flüchtlingslager Bardarasch in der autonomen Kurdenregion im Nordirak. Das Baby wird nicht einmal wach, als ihre Mutter Gulbin sie auf ihre Schulter legt. Die Kurdin will sich nicht fotografieren lassen. Eine Mutter ohne Ehemann habe es in einem Flüchtlingslager nicht leicht, da sei es besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen, murmelt der Übersetzer.
Die Flucht der Mutter und ihres Babys aus Rojava endete auf schwarzem Stein. Aus dem Kurdischen übersetzt lautet so der Name des nordirakischen Flüchtlingslagers Bardarasch. Die Berge zwischen Syrien und Irak haben dem Lager seinen Namen gegeben. Sie erheben sich hinter dem Lager in der gleißenden Sonne schwarz vor dem blauen Horizont. Der „schwarze Stein“ liegt wie ein Riegel zwischen der Heimat, der im Kurdischen Rojava genannten nordsyrischen Föderation, und dem Camp in der autonomen Kurdenregion im Nordirak. Hinter den Bergen schlängelt sich der Tigris durch ein Tal. Mitten im Fluss endet der Irak und Syrien beginnt.
Seitdem Anfang Oktober türkische Bomben auf Orte wie Kobani oder Kamischli fielen, machen sich syrische Kurden auf, um bei den irakischen Kurden Schutz zu suchen. Es sind laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks rund 12.000 Menschen, die aus Rojava in den Irak geflohen. Über 11.000 sind im Lager Bardarasch interniert. Sie überqueren aber nicht den Fluss Tigris, sondern nutzen Schleichwege. Es heißt, die Rojava kontrollierenden Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) wollten eine Massenflucht in den Irak verhindern. Sie ließen niemanden ausreisen aus Angst vor leeren Ortschaften. Sie könnten von ihren Feinden mit neuen Bewohnern gefüllt werden. Der türkische Präsident Erdoğan nannte als ein Ziel seiner Offensive die Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei.
Der Tigris macht südlich des offiziellen Grenzübergangs in Fisch Chabur eine Biegung. Dann verläuft eine grüne und schwer zu überwachende Grenze über Land. Die Schmuggler kennen die Schleichwege. Sie zeigen sie den Flüchtenden aus Rojava für Hunderte von Dollar. Das ist viel Geld für die Menschen aus dem verarmten Nordosten Syriens. Meist gehen sie nachts den Weg in den Irak zusammen mit ihren Schmugglern. Tamara Badran überquerte die Grenze im Dunkeln in den Armen ihrer Mutter Gulbin. Die Schmuggler sagten Gulbin immer wieder, sie solle das weinende Baby zum Schweigen bringen. Die Gruppe würde wegen ihr und ihrem schreienden Neugeboren noch von einer Patrouille der SDF oder der nordirakischen Peschmerga erwischt werden. Aber am Ende erreichten die Flüchtenden den irakischen Boden, ohne jemandem mit der Waffe in der Hand in die Arme zu laufen.
Die Schleuser zeigten nach stundenlangem Fußmarsch auf Lichter, erzählt Gulbin: „Geht da lang, da ist Kurdistan“, sagen sie. Dann verschwanden sie wieder nach Rojava und ließen die Geflüchteten allein weitermarschieren. Ihr Kind war gerade zwei Tage alt, als die ersten Bomben auf Kamischli fielen. Eine Rakete habe gleich am ersten Tag des Krieges, am 9. Oktober, ein Haus in der Nachbarschaft getroffen. „Unser Haus hat gebebt während der Explosion“, erinnert sich Gulbin. Der Familienrat traf eine rasche Entscheidung: Die Mutter, ihr Kind und die übrigen Frauen der Familie sollten mit einem älteren Onkel in den Irak aufbrechen. Die Männer sollten in Kamischli bleiben und die Stellung halten. „Wir hatten Angst, dass Flüchtlinge unser Haus besetzen, wenn wir alle gehen. Vielleicht ist der Krieg ja auch bald vorbei und wir können zurück“, meint die Mutter.
Schon 2012 sei die Familie aus Syrien in den Irak geflohen, erzählt sie. Nach einer Zeit in einem Flüchtlingslager haben die Männer in der nordirakischen Stadt Sulaimanija Arbeit gefunden. Die Familie zog in ein eigenes Haus. Ob es dieses Mal nicht besser wäre, das endlos umkämpfte Syrien für immer zu verlassen? Gulbin zögert mit einer Antwort. Ihr sei es egal, wo Tamara aufwachse, solange dort Frieden herrsche, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass meine Tochter studieren kann. Ich konnte nicht einmal einen Schulabschluss machen wegen der Kämpfe“, sagt sie.
Eine Traube von Geflüchteten folgt einem Manager des Camps. Er sieht die Reporter mit gezücktem Notizblock, die ihm Fragen stellen wollen. Aber er ist umringt von Campbewohnern. Sie lassen nicht von ihm ab. Die Menge folgt ihm von einer Lagerhalle, in der Männer auf Matratzen auf dem Boden liegen und an die Decke starren, durch die staubigen Pfade des Camps bis zu einem Container auf dem Gelände des Lagers. Es dient der Lagerverwaltung als Büro. Anstatt den Container zu betreten, dreht er im Schritt um, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Die Reporter laufen ihm und der Menschentraube hinterher wie ein Gefolge seinem König.
Alle wollen das „Papier“
Sie rufen ihm ihre Fragen zu. Wie viele könnten noch über die Grenze kommen? Wo bleibe die internationale Hilfe? Der Manager antwortet in zwei Sätzen, während er weiter seinen Weg geht. Wie viele noch in den Irak flüchten werden, könne niemand sagen. Und nein, bis auf das UNHCR gebe es derzeit keine internationale Hilfe, ruft der Manager. Dann ignoriert er die Journalisten und wendet sich Camp-Bewohnern zu, die ihm weiter folgen.
Vielleicht wollten die Männer und Frauen von dem Manager Auskunft über eine Frage, die alle Geflüchteten in Bardarasch umzutreiben scheint. In ihren Gesprächen geht es immer wieder um „das Papier“. Damit meinen sie den Schein, der zum Aufenthalt im Nordirak berechtigt. Er gestattet es auch, sich eine Arbeit außerhalb des Lagers zu suchen oder zu Verwandten zu ziehen, die bereits in der autonomen Kurdenregion leben.
Alle Geflüchteten werden erst einmal vom Asayis, dem Geheimdienst der autonomen Kurdenregion, überprüft. Die sich selbst verwaltende Kurdenregion will genau wissen, wem sie Asyl gewährt. Und bevor der Geheimdienst kein grünes Licht gibt, müssen die Geflüchteten eben in ihren Zelten warten. Da viele ihre Ersparnisse zum großen Teil für die Schmuggler ausgeben mussten, wissen sie nicht, wie sie ohne ein Einkommen im Lager über die Runden kommen sollen. Das Wasser gebe es zwar umsonst, nicht aber das Essen, sagen Bewohner des Lagers.
Die kurdische Autonomieregion hat eine traurige Routine im Umgang mit Geflüchteten. In den Jahren musste das Lager Bardarasch immer wieder öffnen. Ein Krieg folgte dem nächsten. Im Lager erzählen sie, dass hier die geflohenen Bewohner von Mossul gelebt haben – der „Islamische Staat“ beherrschte bis zum Sommer 2017 die Stadt. Auch Jesiden, die vor dem IS geflohen sind, haben hier gelebt. Seit einigen Wochen kommen die syrischen Kurden an. Keiner weiß, wann der Exodus enden wird. Oder wie groß er noch wird. Ein Vertreter des Innenministeriums der Autonomen Kurdenregion warnte Mitte Oktober davor, dass im schlimmsten Fall 250.000 syrische Kurden die Grenze und die Kontrollen der SDF auf der einen Seite und der nordirakischen Peschmerga auf der anderen Seite einfach überrennen könnten.
Wer Familie auf der irakischen Seite hat, kann derzeit zumindest hoffen, dass die Verwandten bei den Behörden der Autonomieregion für ihn bürgen und ihre Häuser öffnen. Anderen steht eine ungewisse Zukunft bevor. Entlang der Autobahn von Duhok unweit der irakisch-türkischen Grenze bis Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Kurdenregion, existieren noch andere Lager für Flüchtlinge aus Syrien. Dort leben rund 230.000 Syrer im Irak. Sie sind nach dem Beginn des Krieges in Syrien 2011 in das Nachbarland geflohen. Die Menschen leben in den Camps inzwischen in festen Häusern aus Backstein und Wellblech. Sie hatten in den vergangenen acht Jahren Zeit, sich auf Dauer in ihren Lagern einzurichten.
Die Flucht kostet 500 Dollar, mal 700
Sechs junge Kurden aus dem nordsyrischen Kamischli sitzen unter der Plane eines Zeltes in Bardarasch und rauchen ihre letzten syrischen Zigaretten. Auch sie reden mit Angst und Sorge von dem „Papier“. Es sei ihnen schon vor einigen Tagen versprochen worden und lässt immer noch auf sich warten. Ihre Familien sammelten zu Beginn des Krieges die Ersparnisse zusammen und schickten die jungen Männer aus Kamischli mit den Schmugglern in den Irak. 700 Dollar zahlten die einen an die Schleuser. Den anderen nahmen sie 500 Dollar ab. Warum die Preise innerhalb einer Gruppe unterschiedlich waren, können die jungen Kurden nicht erklären. „Wenn sie dein Gesicht nicht mögen, zahlst du eben mehr“, meint einer.
„Uns war klar, egal wie das ausgeht, für uns ist es das Ende“, sagt Khainis Hussain al Mohammed. Die Türken schickten ihnen loyale syrische Rebellen als Bodentruppen ins Gefecht nach Nordsyrien. Es sind sunnitische Araber, die ursprünglich gegen den Machthaber Baschar al-Assad in Damaskus gekämpft haben und inzwischen auf der Lohnliste Ankaras stehen. Ihr Ruf eilte ihnen vom zunächst umkämpften Ras al-Ain bis nach Kamischli voraus. Ein Video kursiert seit der ersten Woche des Krieges in Nordsyrien im Internet. Es soll arabische Angreifer feixend neben Leichen zeigen. „Wenn wir den Rebellen in die Hände fallen, halten die uns für SDF-Kämpfer, weil wir junge Männer sind. Und dann bringen sie uns um“, meint al-Mohammed.
Die andere Sorge, die die jungen Männer Anfang Oktober in die Flucht trieb, ist seit Mitte Oktober Realität: Die kurdisch dominierte SDF konnte den Vormarsch der türkischen Streitkräfte nur bremsen, aber nicht aufhalten. Die Miliz schloss ein Abkommen mit der syrischen Armee des Machthabers Baschar al-Assad. Die Truppen Assads rückten vor nach Nordsyrien. Nach 2011 hatten sie das vor allem von Kurden, aber auch aramäischen Christen und Arabern besiedelte Gebiet kampflos verlassen, um ihre Kräfte zum Kampf gegen die syrischen Rebellen zu bündeln. Der Rückzug ermöglichte erst die Errichtung einer De-facto-Autonomie in Rojava. Nun ist das Regime, das jahrzehntelang alle nicht arabischen Minderheiten unterdrückte, wieder mit seinen Soldaten im Nordosten Syriens.
Junge Kurden werden an der Front verheizt
Die Syrer würden junge Kurden zwar nicht auf der Stelle umbringen, wie sie es von den Rebellen befürchten, meinen die Männer. Sie hätten aber Strafbataillone für jene Männer im wehrhaften Alter, die sie in von ihnen eroberten Gebieten entdeckten. Um die Deserteure zu bestrafen, gehe es für sie dann direkt an die Frontlinie. „Sie schicken dich direkt ins Feuer, damit du gleich draufgehst“, sagt der 20-jährige Emad Ahmed. Bei dem Ziel, möglichst viele Kurden zu töten, gebe es ohnehin keinen Unterschied zwischen dem Assad-Regime und seinen bewaffneten Feinden, sind sich die Freunde sicher.
Angesichts der Präsenz der syrischen Armee in Rojava sei der Weg zurück verstellt, sagen sie. Keiner der jungen Kurden glaubt, dass Damaskus auf Dauer eine autonome Zivilverwaltung in Nordsyrien dulden werde. „Die Syrer wollen mehr“, sagt der 21-jährige Mahmud Mohammed al-Mohammed.
Wenn die Hilfe des syrischen Regimes gegen die Türken nur eine etwas langsamere Todesart für Rojava ist, haben die jungen Männer durch ihre Flucht zumindest nichts zum kurdischen Widerstand beigetragen. Auf die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, mit der Waffe in der Hand gegen die Türken, ihre arabischen Verbündeten oder die Armee Assads zu kämpfen, legt sich ein Schweigen über die Gruppe.
Khanis Hussain al-Mohammed zückt sein Smartphone und zeigt Bilder aus dem Heimatdorf der Freunde, Kafr Saghir. Es liegt nicht in Rojava, sondern nördlich des Ende 2016 vom Assad-Regime eroberten Aleppo. Die Fotos zeigen grüne Felder und Schafherden, dazwischen einfache Betonhäuser. „Ein Paradies“, meint der 19-Jährige. Ein weiteres Foto zeigt Kafr Saghir dann als eine wie von Bulldozern niedergewalzte Schutthalde.
Vor vier Jahren hätten die Araber aus der Umgebung das Kurdendorf dem Erdboden gleichgemacht. Sie wollten die ungeliebte Minderheit aus dem umkämpften Umland von Aleppo loswerden. Er und seine Freunde hätten schon vor der Vertreibung nur unregelmäßig die Schule besuchen können, meint der junge Kurde. „Ich will die ganzen Kämpfe aus meinem Kopf bekommen“, sagt al-Mohammed. Die anderen Jungen nickten. Es scheint, als gehörten sie zu einer Kriegsgeneration, die ihr Land aufgegeben hat. Sie kann das Morden einfach nicht mehr ertragen. Egal, ob die eigene Seite gewinnt oder verliert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?