Vor der Präsidentenwahl in Argentinien: Die Zeichen stehen auf Machtwechsel
Die Bilanz des argentinischen Amtsinhabers Mauricio Macri ist verheerend. Deshalb steht jetzt der Peronismus vor der Rückkehr an die Macht.
Ob das bei der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag auch gelingt, ist allerdings fraglich. Mit gut fünfzehn Prozent Stimmenunterschied hatte Herausforderer Alberto Fernández den amtierenden Macri abgehängt. 47,7 Prozent der Stimmberechtigten votierten am 11. August für den Mitte-links-orientierten Fernández. Sollte sich das Ergebnis am Sonntag wiederholen, hätte Fernández die Wahl im ersten Durchgang gewonnen. Dafür nötig sind 45 Prozent der Stimmen.
„Argentinien geht es heute besser als vor vier Jahren“, meint fahnenschwenkend die 45-jährige Gladys Montielle, die im Stadtviertel Palermo eine Modeboutique betreibt. Schließlich habe Präsident Macri mit Korruption und Klientelismus der Kirchner-Regierungen aufgeräumt.
Dass sich das Land wirtschaftlich und sozial auf einer bedrohlichen Talfahrt befindet, lässt sie nicht gelten: „Mauricio braucht einfach mehr Zeit.“ Gladys Montielle war auch am 24. August dabei, bei der ersten großen Kundgebung für den Präsidenten nach dem niederschmetternden Abschneiden bei den Vorwahlen. Als Macri unerwartet auf dem Balkon der Casa Rosada erschien, liefen bei ihr die Tränen.
Direkter Kontakt
Bis dahin gehörten Massenversammlungen nicht zum Instrumentarium von Macris Wahlkampfallianz Juntos por el Cambio (Zusammen für den Wandel). Doch nachdem am 24. August so viele gekommen waren, entwickelte die Kampagnenleitung den „Marcha del Sí, se puede“. Statt in geschlossenen Räumen vor ausgewählten Publikum sollte Macri jetzt den direkten Kontakt zur Bevölkerung suchen.
Über 30 Mal trat er seither auf. Gab sich emotional wie ein Wanderprediger. Zeigte Reue angesichts der Krise und versprühte Zuversicht, das Blatt wenden zu können. Mal kamen 10.000, mal waren es 200.000 und letzten Samstag über 350.000.
30 Prozent der Wahlberechtigten stehen fest zu ihrem Präsidenten. Entscheiden werden die Wahl jedoch die Wechselwähler*innen. Wie Susana Bárez. „Bei der letzten Wahl habe ich für Macri gestimmt“, sagt sie. Sie habe an eine positive Änderung geglaubt. „Ich habe mich geirrt.“
Jetzt steht sie auf dem Platz vor der Bahnstation von Sarandí, einem Vorort im Süden von Buenos Aires. Die 43-Jährige ist Mitorganisatorin von „Manteros Sarandí“, einer von zahllosen Tauschgruppen, die seit Monaten einen enormen Zulauf erleben.
Überleben sichern
Während der tiefen Krise von 2001 waren diese Tauschmärkte entstanden. Kleidung gegen Nahrungsmittel, Haare schneiden gegen die Reparatur eines verstopften Rohres. Damals sicherten sie vielen das Überleben. Der große Unterschied heute: Vieles wird vorab über Facebook vereinbart. Dort hat auch Bárez ihre gebrauchten T-Shirts eingestellt und zum Tausch angeboten. Jetzt wartet sie auf die vereinbarten drei Pakete Nudeln und zwei Pfund Trockenmilch.
Als Macri 2015 an die Regierung kam, hatte Susana Bárez Arbeit als Reinigungskraft in einem Metallbetrieb. Als der Betrieb in die Miesen geriet, wurde sie wie viele entlassen. „Cristina Kirchner hat geklaut, o. k., aber mein Kühlschrank war voll. Ich hatte Milch für die Kinder und Fleisch im Eisfach. Heute regieren auch keine Unschuldslämmer und mein Kühlschrank ist leer. Mir wurde das Gas abgestellt. Jetzt muss ich eine Gasflasche kaufen, wenn ich sie bezahlen kann“, so Bárez’ persönliche Bilanz.
„Uns alle hier treibt die Inflation immer tiefer in die Armut.“ Ihr ausgestreckter Arm weist über den Platz. Für 2019 wird mit einem Preisanstieg von über 55 Prozent gerechnet. Lebensmittel und Getränke sind schon in den letzten zwölf Monaten um 57 Prozent teurer geworden, meldete erst vor wenigen Tagen die Statistikbehörde Indec.
Der Kampf gegen die Armut war eines der zentralen Versprechen von Präsident Macri. Aber am Ende seiner Amtszeit leben mit 35,4 Prozent der Bevölkerung mehr Menschen in Armut als vor vier Jahren. Mitte September verlängerte der Kongress in Eilsitzungen den Ernährungsnotstand und bewilligte für den Rest des Jahres zusätzliche Lebensmittelhilfen für Arme und Notleidende im Wert von 170 Millionen Euro.
Keine Entlassungen
Auch Daniel Torres bereut es, für Macri gestimmt zu haben. Der 54-Jährige steht vor den geschlossenen Werkstoren von Zanella in Caseros, einem Vorort westlich der Hauptstadt. Der Wind fegt den Staub durch die Straße, sonst bewegt sich hier nichts.
Torres ist hier, um einige Aufräumarbeiten zu erledigen. Seit über 70 Jahren stellt Zanella Motorroller und -räder her. Torres ist seit 33 Jahren dabei. Drei Monatslöhne schuldet ihm die Firma bereits, wie auch den anderen 130 Beschäftigten in Caseros. Entlassen wurde noch niemand, gerade läuft die Schlichtung.
Noch ist die Traditionsmarke die Nummer drei auf dem heimischen Markt. An vier Standorten wurde produziert. Doch statt 2019 die Herstellung des 2,5 Millionsten Motorrads zu feiern, brach der Markt ein. Im Juli wurde das Werk in der Küstenstadt Mar del Plata geschlossen, im August das in der Provinz Córdoba. Von den ehemals 500 Beschäftigten in der Provinz San Luis arbeiten noch 50 im dortigen Werk.
Zanella ist ein Paradebeispiel für den Niedergang der argentinischen Industrie, die sich seit zwei Jahren im scheinbar unaufhaltsamen Sinkflug befindet. Reihenweise geben mittelständische Unternehmen auf, Werksschließungen und Entlassungen sind an der Tagesordnung. Mit 10,1 Prozent kletterte die Arbeitslosigkeit gerade auf die höchste Rate seit dreizehn Jahren.
Karre aus dem Dreck ziehen
Beschäftigte und Unternehmer*innen kehren Macri den Rücken. „Macri allein ist dafür nicht verantwortlich“, sagt Daniel Torres. Aber dass Macri die Karre aus dem Dreck ziehen kann, daran glauben er und viele seiner Kolleg*innen nicht. Am Sonntag will er für den Wechsel stimmen. „Die Kröte Cristina muss ich schlucken. Ich hoffe, Alberto bleibt eigenständig genug.“
Cristina Kirchners Entscheidung für das Vizeamt zu kandidieren und, zur Überraschung aller, Alberto Fernández zum Präsidentschaftskandidaten zu küren, erwies sich als genialer Schachzug. Während sie ihre Stammwähler*innen von 30 Prozent einbringt, gelingt es Alberto Fernández durch sein offenes Zugehen auf die unentschlossenen und gegen Cristina eingestellten Stimmberechtigten den notwendigen Stimmenzuwachs zu holen. Stimmen für den Wechsel, wie die von Susana Bárez und Daniel Torres.
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