Wer ist ein guter Migrant?: Scheitern dürfen
Ein AfD-Politiker hat Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind, als „Gesindel“ bezeichnet. Daran erinnert eine Aktion im Netz. Und nun?
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Kennen Sie diesen Satz? 1965 hat das Max Frisch gesagt; was er damit meinte, war: Deutschland hatte mit der Türkei ein Anwerbeabkommen unterzeichnet, Hunderttausende Menschen zogen mit ihren Familien nach Deutschland. Sie wurden als Arbeitskräfte angeworben, die man schlechter als die „eigenen“ deutschen Arbeiter*innen behandeln konnte. Als Menschen waren sie egal.
Seit vergangenem Wochenende kursiert auf Twitter ein abgewandeltes Zitat zusammen mit einem Bild eines AfD-Abgeordneten: „Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel.“ Nicolaus Fest, AfD-Abgeordneter im EU-Parlament, hat das 2017 geschrieben.
Und es gibt mehr solcher AfD-Zitate. In Farbgebung und Schrift erinnern die Bilder an AfD-Plakate, nur das Partei-Logo fehlt. Darauf zu lesen sind Aussagen von AfD-Politikern aus den letzten Jahren. Die Aktion stammt vom Twitteraccount „HoGeSatzbau“, einer satirischen Initiative, die seit fünf Jahren aktiv im Netz gegen rechte Gruppierungen wie Pegida oder „Hooligans gegen Salafisten“ vorgeht. Ziel sei es, so sagte es ein Sprecher der HoGeSatzbau gegenüber dem Bayerischen Rundfunk, „Dinge, die die AfD gesagt hat und von denen sie gerne hätte, dass sie vergessen werden, dass diese Dinge in Erinnerung gerufen werden“.
Nun kann man diese Aktion lustig finden, man kann sie auch als wichtig erachten. Wichtig, weil man niemals aufhören sollte, öffentlich zu machen, welche abscheulichen und menschenfeindlichen Dinge AfD-Politiker*innen und ihre Anhänger*innen von sich geben. Und wichtig auch deshalb, um in aller Deutlichkeit klar zu machen, dass derartige Aussagen niemals Normalität sein dürfen in diesem Land. Doch anstatt die AfD mit der Verbreitung ihres Mülls zu enttarnen, passierte etwas anderes.
Ein Paradebeispiel
Kinder und Enkel*innen von Gastarbeiter*innen sahen sich in den vergangenen Tagen dazu genötigt, ihre Existenzberechtigung in diesem Land mit der harten Arbeit ihrer Familienangehörigen zu begründen.
Auf Twitter schrieben Menschen Dinge wie: „Mein Opa Ali Dogan ist 1964 in dieses Land gekommen, hat 30 Jahre lang in der Automobilindustrie in Stuttgart geschuftet und dieses Land mit aufgebaut.“ Oder: „Mein Vater, Ahmet Secgin, kam 1962 in die #BRD, schuftete 42 Jahre […] war nie arbeitslos, ging 2004 mit 65 Jahren ehrenhaft in Rente, starb 2019 mit 80 Jahren.“
Was hier passiert, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Migrationsdebatten in Deutschland seit Jahrzehnten geführt werden. Irgendwer wertet Migrant*innen ab, diese sehen sich gezwungen dagegen zuhalten und mit Erfolgsgeschichten und Diplomen Beweise dafür zu liefern, dass sie und ihre Familien eben nicht das faule „Gesindel“ sind, als das sie von Konservativen und Rechten bezeichnet werden.
Was in diesen Debatten also im Zentrum steht, ist die Frage: Wem nützt Migration? Antwort: der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Und wenn sie nicht mehr nützt, wenn sie sich nicht auszahlt, dann weg mit euch, dann seid ihr nichts mehr wert. Nur fleißige Migrant*innen sind gute Migrant*innen – so das gängige Narrativ.
Es ist schmierig, wenn Menschen wie Nicolaus Fest Migrant*innen mit ihren Aussagen in die Position bringen, sich rechtfertigen zu müssen. Denn natürlich werden sie das tun, weil sie es leid sind, abgewertet und beleidigt zu werden. Doch diese Rechtfertigung hat auch in sich selbst etwas Problematisches. Denn mit ihr reproduziert man genau den Maßstab, den Rechte ansetzen: Ein guter Migrant ist ein schweigender und arbeitender Migrant.
Was in Migrationsdebatten deshalb ständig zu kurz kommt, sind Geschichten des Scheiterns. Menschen sollen, ja sie müssen in ihrem Leben sogar scheitern dürfen. In Deutschland zählt das aber nicht für alle Menschen gleich, so war das schon immer. Ein Vorwurf, auch von vielen Betroffenen selbst, lautet deswegen immer öfter: Ihr helft nicht, wenn ihr auf Beschimpfungen mit „Gastarbeiter-Romantik“ antwortet.
Klar, Widerspruch ist wichtig. Geschichten, die bislang keinen Raum fanden, müssen unaufhörlich erzählt werden. Was es aber künftig auch braucht, sind Geschichten fernab der Romantik. Die neue Strategie muss lauten: Erzählt Geschichten des Scheiterns, die nicht vom ersten VW Golf handeln. Brecht das Narrativ der stummen Gastarbeiter*innen. Es braucht eine Gegenerzählung, die sich nicht an rechten Vorstellungen abarbeitet. Eine Gegenerzählung, die keine Reaktion ist, sondern Aktion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“