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Im Notfall: Pädagogik

Seit mehr als einem Jahrzehnt helfen Notfallpädagogen Kindern und Jugendlichen unmittelbar nach einer Katastrophe mit Instrumenten der Waldorfpädagogik

Bernd Ruf ist seit 13 Jahren als Teamleiter im Einsatz, hier in Indonesien: „Wir versuchen diesen Kindern einen Rhythmus zurückzugeben, der sie wieder halbwegs regelmäßig schlafen und essen lässt“ Foto: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Notfallpädagogik

Von Dierk Jensen

Der Zyklon „Idai“ brachte im März dieses Jahres Chaos über Mosambik. Zuerst ergoss sich sintflutartiger Regen über das Land im Südosten Afrikas, dann peitschten Stürme mit Windgeschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometer über die Siedlungen hinweg. Weite Teile des Landes standen unter Wasser, viele Menschen wurden von den Fluten in den Tod gerissen. Noch Tage nach dem Unwetter trieben Leichen umher, das gesamte öffentliche Leben lag darnieder und mehrere hunderttausend Menschen wurden obdachlos.

Mittendrin in diesem Elend auch viele Kinder und Jugendliche, die ihr Zuhause, vielleicht sogar ihre Eltern verloren hatten und ihrem Schicksal selbst überlassen waren. „Genau in solchen akuten Situationen greifen wir ein, leisten notfallpädagogische Arbeit, reichen den Kindern unterschiedliche Angebote, um sie sofort psychologisch betreuen zu können“, erklärt Bernd Ruf von der Notfallpädagogik der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ mit Sitz in Karlsruhe. „Dabei praktizieren wir keine traumatherapeutische Arbeit, sondern leisten im wahrsten Sinne des Wortes Erste Hilfe, um die Schockstarre überwinden zu helfen und so die akuten Verkrampfungen der Kinder aufzulösen. Wir versuchen diesen Kindern einen Rhythmus zurückzugeben, der sie wieder halbwegs regelmäßig schlafen und essen lässt“, holt Ruf weiter aus, der in den letzten 13 Jahren als Teamleiter schon an vielen Orten Krisenintervention praktiziert hat – in Haiti, in China und eben auch jüngst in Mosambik.

Ob er Portugiesisch spricht? „Nein, das brauche ich im Grunde auch gar nicht“, entgegnet der 65-Jährige mit seiner prägnant rauen Stimme. „Sehen Sie, als wir in Mosambik ankamen, da sind uns viele Kinder begegnet, denen das Erlebte vollkommen die Sprache verschlagen hat. In solchen Situationen können Sie mit Sprache nicht viel anfangen, sie verstummt in manchen Fällen, da muss man sich unter der Sprach­ebene vorwagen, um in die Gefühlswelt einzutauchen“, erklärt Ruf. „Deshalb zeichnen, malen, tanzen, plastizieren und musizieren wir mit den traumatisierten Kindern, um sie aus ihren schlimmsten Blockaden wieder herauszuholen“, fügt er hinzu. In der Regel dauern die notfallpädagogischen Einsätze „nur“ zwei Wochen. Dann ziehen sich die Kriseninterventionsteams aus dem jeweiligen Notstandsgebiet zurück.

„Es ist letztlich wie in der Notfallmedizin, der Notfallarzt begleitet den Patienten bis zum Krankenhaus, dann übernehmen andere. Das ist bei uns ähnlich“, vergleicht der Leiter des Karlsruher Parzival-Schulzentrums die vornehmliche Aufgabe der Notfallpädagogik. Dabei schält der anthroposophische Pädagoge vier Punkte heraus, die die ganzheitlich-psychologische Notfallpädagogik in Katastrophengebieten auf den Weg bringen möchte: den Alltag der Kinder zumindest in Grundzügen wieder zu strukturieren, ihnen ihre elementaren Lebens-Rhythmen zurückzugeben, ihre Verstummung aufzubrechen und zudem auch den Kontakt zwischen Leib und Seele durch theaterpädagogische Elemente wiederherzustellen.

Das Engagement aus den Reihen der internationalen Waldorfschulbewegung geht auf das Jahr 2006 zurück. Als eine libanesische Schülergruppe im Rahmen eines Jugendaustausches während der Fußball-WM im Sommer Stuttgart besuchte, brach in Beirut plötzlich der Krieg aus, sodass die Kinder nicht mehr nach Hause konnten. Der Stuttgarter Bürgermeister wandte sich an Ruf, ob dieser die Kinder – trotz Krieges – zu ihren Eltern nach Hause bringen könne. Schließlich brachte der Pädagoge die libanesischen Kinder unter Geleitschutz von Unicef und zwischen den Fronten zu ihren Eltern zurück. Ein Erlebnis, das bei ihm bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

„Ich habe erst in Beirut erfahren, was Krieg überhaupt heißt“, erinnert sich der Lehrer an Granat-Einschläge und Maschinengewehrsalven. „Sie schauen in bleiche Gesichter und starre Augen, das vergessen Sie nicht mehr.“ Nach den Erfahrungen in Beirut entwickelte er das große Anliegen, denjenigen Kindern, die in solche Situationen geraten, sofort und unmittelbar zu helfen. So entstand die Idee der Notfallpädagogik, die mit dem verheerenden Erdbeben im chinesischen Sichuan im Jahre 2008 ihre Feuertaufe erlebte: Auf Anfrage von internationalen Hilfsorganisationen kamen die Teams unter der Leitung von Ruf zum Einsatz. Mittlerweile waren die Teams schon in 24 Ländern aktiv: Es ist inzwischen ein internationales Netzwerk entstanden, das aufgrund seiner Kompetenz und Wirksamkeit gerne von Waldorfschulen gerufen oder auch von Hilfsorganisationen wie beispielsweise „Aktion Deutschland hilft“ (ADH) finanziell unterstützt wird. Einmal jährlich trifft sich die internationale Gemeinschaft von Notfallpädagogen in Karlsruhe, um Erfahrungen auszutauschen und Wissen zu vertiefen.

In diesem Jahr, in dem die internationale Waldorfschulbewegung ihren 100-jährigen Geburtstag feiert, haben alle Beteiligten eine Charta unterzeichnet, die künftig eine gemeinsame „Notfallpädagogik ohne Grenzen“ möglich machen soll. Zumal es aktuell in vielen Regionen krisele, merkt Ruf nachdenklich an. Doch mag er es bei den derzeitigen politischen und umweltpolitischen Verwerfungen nicht bei Kassandrarufen allein belassen, dies hinterlasse oft nur eine bleierne Ohnmacht. Er ist vielmehr jemand, der die Hoffnung nicht aufgegeben hat. „Wenn Sie toten Kinderaugen wieder Leben einhauchen, dann wissen Sie, dass die Welt noch zu retten ist.“

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