Inszenierung mit Flüchtlingen: Die Waffe der Entrechteten
Regisseur Milo Rau fordert in seinem Gastbeitrag eine „Revolte der Würde“. Für die Inszenierung in Italien bringt er Aktivismus und Kunst zusammen.
Mitte Oktober ging im römischen Nationaltheater – das vor fast genau 200 Jahren mit der Uraufführung von Rossinis „Barbier von Sevilla“ eröffnet wurde – nach 10 Wochen der letzte Drehtag meines Jesusfilms „Das Neue Evangelium“ über die Bühne. Zweieinhalb Monate hatten wir vorher im Süden Italiens gedreht, in den Straßen und auf den Hügeln in und um Matera, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas.
Diesen letzten Dreh wollte ich aber in Rom inszenieren, auf einer Bühne. Einerseits, weil die Auferstehung etwas ist, an das ich – wie die meisten meiner Mitarbeiter*innen – nur als politische Metapher glaube. Und andererseits, weil ein Jesusfilm zwingend in Rom enden muss: der Hauptstadt des katholischen Glaubens.
Der Abend begann mit einer Rede von Pontius Pilatus, gespielt vom italienischen Schauspieler Marcello Fonte. Fonte ist seit „Dogman“ der populärste Darsteller Italiens, und dass gerade er Pilatus spielt, ändert die Temperatur der Rolle komplett. In klassischen Bibelfilmen ist Pilatus ein kühler, elitärer Bürokrat. Der quirlige Volksschauspieler Fonte aber spielt ihn als zweifelnden Jedermann.
Als wir die Szene vor etwas mehr als einer Woche in Matera inszenierten, vor einer Menge von Statisten und Touristen, wurde mir eines klar: Die Frage von Pilatus ist ehrlich gemeint. Und es ist tatsächlich das Volk, das sich dafür entscheidet, Jesus zu kreuzigen. Oder mit anderen Worten: Es hätte sich auch anders entscheiden können.
Ex-Prostituierte, Tomatenpflücker, Straßenhändler
Nach einem theatralen Einschub – einer nach Caravaggio inszenierten Kreuzabnahme – sprachen die Apostel*innen zum Publikum: Aktivist*innen aus den Flüchtlingslagern Süditaliens, ehemalige Prostituierte, Tomatenpflücker, Straßenhändler und Kleinbauern. Sie vertreten im „Neuen Evangelium“ die geschätzt 500.000 vom italienischen Staat illegalisierten und von den Dublin-Abkommen in Italien festgehaltenen Flüchtlinge, die auf den Tomaten- und Orangenplantagen des Südens ausgebeutet werden.
Milo Rau ist Intendant des Stadstheater NTG im belgischen Gent. Über „Rivolta della dignità“ und die Filmarbeiten berichtete er regelmäßig exklusiv in der taz.
In der „Revolte der Würde“, die wir parallel zum Jesusfilm mit über 30 Organisationen aus Italien und Europa vergangenen Sommer initiiert haben, haben sie sich gegen ein feinmaschiges, von der Mafia kontrolliertes System der Sklaverei erhoben: mit Haus- und Landbesetzungen, mit Demonstrationen, mit einer Medienkampagne und einem Manifest.
„Dieses Land ist mein Land und dieses Land ist euer Land“, sagt der Ghanaer Raz Bamba, der in meinem Film den Apostel Matthäus spielt. Um den Ghettos Italiens zu entfliehen, wollte er in die Schweiz, wurde aber zurückgeschafft. Warum können die Europäer nach Afrika fliegen, umgekehrt aber nicht? Warum kann der Kakao Ghanas in die Schweiz einreisen, aber nicht die Bevölkerung des Landes? Warum basieren ganze europäische Wirtschaftszweige auf Sklavenarbeit?
Gesetze nie umgesetzt
Man erkennt ein System daran, wie es Ungleichheit rechtfertigt, schreibt Thomas Piketty in seinem neuen Buch „Capital et idéologie“. Eine Revolte beginnt damit, dass diese Rechtfertigungen zurückgewiesen werden als das, was sie sind: die Ideologie einer Eigentümer- und Konsumentengesellschaft, die auf Ungleichheit angewiesen ist, um bequem zu leben.
Nach den Reden „aufersteht“ Jesus: Der schwarze Aktivist Yvan Sagnet, einst selbst Tomatenpflücker, der 2011 den ersten großen Streik gegen die Mafia organisiert hat, tritt auf die Bühne. Die Gesetze gegen das „Caporalato“ genannte System des Menschenhandels, die damals dank Sagnet eingeführt wurden, sind nie umgesetzt worden. Die „Revolte der Würde“ ist gewissermaßen der zweite Anlauf, damit die Gesetze endlich umgesetzt werden, gemäß dem Bibelwort: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu brechen. Ich bin gekommen, es zu erfüllen.“
Die Ausflüchte des Vizebürgermeisters von Rom, dem nach Sagnets Rede das „Manifest der Würde“ mit sechs konkreten Punkten – unter anderem dem Aufruf zur Besetzung verlassener Infrastrukturen und nicht genutzter Ackerfläche – überreicht wird, gehen im Hohngeschrei des Publikums unter.
Die „Revolte der Würde“ hat zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer landesweiten Vernetzung von Organisationen geführt, die sich für die Rechte von Migranten und kleinen Argrarunternehmern einsetzen. Dank der internationalen Berichterstattung über das „Neue Evangelium“ wird etwa die Casa Sankara – eine von zwei unserer Apostel geleitete Agrarkommune, ein gelungenes Beispiel postkapitalistischer Landnahme – aktuell mit Anfragen und Unterstützungsangeboten überschwemmt.
Yvan Sagnet selbst steht kurz vor einem Vertrag mit einer Supermarktkette, um die von seiner Organisation „NoCap“ legal produzierten Tomaten auch wirklich in die Regale zu bringen. Über Monate waren wir mit ihm in die Lager gefahren, um mit Anwälten die Papiere der afrikanischen Arbeiter fertig zu machen.
Einige andere Apostel, gerade noch Tomatenpflücker, haben sich zusammengeschlossen, um auf verlassenen Feldern im großen Stil afrikanisches Gemüse anzubauen. In der Nähe von Matera entsteht schließlich, nach dem Modell der Casa Sankara, das erste der „Häuser der Würde“: verlassene Häuser werden besetzt, renoviert und bewohnt. Die Flüchtlinge können die wilden Lager und damit den Einflussbereich der Menschenhändler verlassen. „Die Mafia fürchtet sich vor unserer Revolte, denn nichts ist schlimmer für sie als Öffentlichkeit – und dass die Menschen Alternativen zur Ausbeutung haben“, sagt Mbaye, der den Apostel Andreas spielt und die Casa Sankara leitet.
Pragmatischer Kampf
So pragmatisch der Kampf in Süditalien ist, so sehr haftet dem Schlussabend in Rom, weitab von den Plantagen, etwas Theatrales an. „Das Römer Publikum konsumiert die Auferstehung Jesu“, schreibt am nächsten Tag eine Zeitung ironisch und fügt hinzu: „Das ist genau das Publikum, das Pontius Pilatus einst hatte.“ Das Publikum stimmt in die Rufe ein, und das – extrem radikale – Manifest der Würde wird mit wenigen Enthaltungen und nur einer Gegenstimme angenommen. Die Sehnsucht des Römer Publikums nach tatsächlicher Veränderung der Zustände aber ist gering: Zu uns komme dein Reich, aber nur als Theaterabend.
Doch zurück in den Süden, zurück nach Matera. Die ehemalige Höhlenstadt steht seit über 50 Jahren im Weltkino für Jerusalem. Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson haben hier die zwei wohl bekanntesten Bibelfilme gedreht: „Das 1. Evangelium – Matthäus“ (1964) und „Die Passion Christi“ (2004). Schauspieler aus beiden Filmen sind im „Neuen Evangelium“ mit dabei. Der Jesus von Pasolini, Enrique Irazoqui, spielt Johannes den Täufer. In der Taufszene, die wir auf einer Landzunge am Meer gedreht haben, übergibt er symbolisch den Stab an Yvan Sagnet: den ersten schwarzen Jesus des europäischen Bibelfilms.
Als heilige Maria dagegen tritt im „Neuen Evangelium“ Maia Morgenstern auf, die die Rolle bereits bei Mel Gibson gespielt hat. Morgenstern wurde nach Gibsons Film mehr oder weniger von der jüdischen Gemeinschaft Rumäniens exkommuniziert. Nun noch einmal die Mutter Gottes zu spielen – mit einem schwarzen Sohn – ist für sie, wie für viele der Darsteller, ein Statement: gegen Rassismus, aber auch gegen die pseudohistorische Einengung der universalen Botschaft der Bibel, wie Gibson sie vornahm, als er seine Darsteller aramäisch sprechen lass.
Auch Marcello Fonte ist bei unserem Projekt vor allem deshalb dabei, weil er die politische Botschaft unterstützt. Aufgewachsen nicht weit von Matera auf einem Schrottplatz, den sein Vater besetzte, war Fonte unter anderem bei der historischen Besetzung des Teatro Valle dabei. Aktuell wohnt er in einem besetzten Kino.
Polizeichef als römischer Offizier
Die übrigen Rollen – an die 150 Figuren treten im Neuen Testament auf – haben wir in monatelangen Castings kennengelernt. Viele Darsteller sind uns während der Recherchen und Proben über den Weg gelaufen. Als wir im August im Rahmen der „Revolte der Würde“ eine Demonstration gegen die Schließung eines Flüchtlingslagers veranstalteten, lernte ich den Polizeichef kennen: ob er einen römischen Offizier spielen wolle?
Der Mann aus Bernalda, der Heimatstadt von Francis Ford Coppola, erschien ein paar Tage später auf dem Set. Direkt neben dem geschlossenen Lager verhaftete er in einem historischen Kostüm Yvan Sagnet. Vor der Kamera wird so aus politischer Gewalt eine Allegorie, aus Konfrontation wird künstlerische Solidarität. Oder der Bürgermeister von Matera, als eine von wenigen Städten im Süden Italiens noch links regiert: Er spielt Simon von Cyrene, der Jesus das Kreuz trägt. So hat jede und jeder seine eigene Begründung, warum er bei einem Jesusfilm dabei sein will: Glaube, politische Überzeugung, biografischer Zufall.
So auch Vito, ein anarchistischer Kleinbauer, der im „Neuen Evangelium“ den Apostel Bartholomäus spielt. Kennengelernt habe ich ihn, als wir nach Häusern suchten, die wir besetzen und in unsere „Häuser der Würde“ verwandeln könnten. Vito produziert Olivenöl, und wie alle unsere Apostel*innen steckt er in zahlreichen Prozessen wegen zivilen Ungehorsams gegen die Politik der großen Konzerne.
Die Agrarkonzerne drücken die Preise
Die Basilicata, in der wir hauptsächlich drehen, ist weitgehend entvölkert, Monokultur reiht sich an Monokultur. Die internationalen Agrarkonzerne bestimmen die Preise, was bedeutet: drücken sie so weit, dass nachhaltiges Produzieren unmöglich ist. Für einen Liter Tomatensaft, der im Supermarkt 2 Euro kostet, bekommt der Hersteller 9 Cent. Wer den Preiskampf überlebt, den richtet die EU mit unerfüllbaren Verordnungen zugrunde. Um überhaupt noch überleben zu können, sind viele Bauern auf Tauschwirtschaft umgestiegen.
Für Vito ist die „Revolte der Würde“ deshalb der einzige Ausweg: Mach kaputt, was dich kaputt macht! In der Revolte entstehen bisher ungesehene Solidaritäten: zwischen Kleinbauern und Flüchtlingen, zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Denn den postmodernen Kapitalismus überwindet nur, wer seine spalterische Ideologie des Identitären überwindet. Yvan Sagnet ist gläubiger Katholik, Vito aber ist, wie auch ich, Atheist. Mehr als die Hälfte der Apostel*innen dagegen sind gläubige Muslime: mitten im Letzten Abendmahl müssen wir den Dreh unterbrechen, da Jesu Jünger ihre Gebetsteppiche Richtung Mekka ausrollen.
Doch immer wieder werde ich während der Dreharbeiten gefragt, ob ich gläubig sei. Zum einen lautet meine Antwort: Ja. Denn woran ich glaube, ist die im Neuen Testament beschriebene Möglichkeit der Veränderung. Sich zu engagieren heißt, für das zu kämpfen, was noch nicht ist, aber sein müsste – in unserem Fall für ein menschenwürdiges Leben der Migrant*innen. Das Neue Testament, vor allem in der paulinischen Auslegung, ist eine Universalreligion, es sträubt sich gegen die eine und damit gültige Auslegung.
Menschen retten
Die Bürger*innen Europas, so formuliert es der umstrittene äthiopisch-italienische Priester Mussie Zerai, der in unserem Film Jesus vom Kreuz nimmt, sollen nicht nach dem Gesetz leben. Sie sollen es herausfordern, Tag für Tag. Die zufällig gültigen Rechte – die in Italien etwa die Seenotrettung illegalisieren – müssen an der Gerechtigkeit gemessen werden. Zerai selbst rettet Menschen vor dem Ertrinken, schleust sie über die Grenze, bringt sie in besetzten Häusern unter. Denn wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.
Am Abend nach der Show im Nationaltheater sitze ich in der Villa Massimo mit der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zusammen, die zufällig auch in Rom ist. Der Universalismus unserer Bibelinterpretation, die Negation der Nebenwidersprüche zum Herstellen von Solidarität ist für sie der Beginn allen Übels: denn Universalismus ist immer auch eine Ideologie der Entrechtung anderer. Und hier liegt natürlich der innere Widerspruch des „Neuen Evangeliums“ und vielleicht aller Bibelfilme: nichts ist deprimierender als die wahre Geschichte der katholischen Kirche, für die Mission tatsächlich nichts anderes als Unterwerfung war und damit die Auslöschung zahlloser anderer Religionen.
Das Schlussevent in Rom endete deshalb mit der Taufe eines ehemaligen kongolesischen Landarbeiters, der passenderweise Matthieu, also Matthäus, heißt. So wie Pasolinis Jesus den Stab an Yvan Sagnet übergab, so gibt Sagnet nun dem nächsten Jesus sein Sakrament. Vor der Taufe zitiert Matthieu, der unsere Dreharbeiten über Wochen aufmerksam verfolgt hat, einen berühmten Ausspruch des südafrikanischen Geistlichen Desmond Tutu: „Als die Missionare nach Afrika kamen, hatten sie die Bibel und wir das Land. Sie sagten: ‚Lasst uns beten.‘ Wir schlossen unsere Augen. Und als wir sie wieder öffneten, hatten wir die Bibel und sie das Land.“
Nächstes Jahr wird Matthieu selbst den Erlöser spielen in einem neuen Jesusfilm. Ein Film, der nur deshalb produziert wird, um mit dem Erlös jenes Land zurückzukaufen, das vor 400 Jahren im Namen der Bibel enteignet wurde.
Denn das Land seiner Urahnen gehört heute der Firma Unilever, die dort 50 Jahre lang Palmöl anbaute, bis die Erde nichts mehr hergab. Bald wird es wieder den Arbeiter*innen gehören. Und vielleicht ist genau dies der heilbringende Charakter der Schrift: das Evangelium als Waffe der Entrechteten wieder zu entdecken, so wie es einst geschrieben wurde.
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