Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk: Die Grenzüberschreiterin
Nobelpreis I: Die Auszeichnung 2018 geht an die polnische Autorin Olga Tokarczuk. In ihrer Heimat wird das nicht nur Jubel auslösen.
Eine Überraschung war es nicht. Schon seit einiger Zeit wurde Olga Tokarczuk für den Literaturnobelpreis gehandelt. Seit Donnerstag, 13 Uhr, ist es nun Gewissheit. Tokarczuk ist nach Wisława Szymborska (1996) die zweite polnische Schriftstellerin, die den Nobelpreis bekam.
Zuvor waren die männlichen Autoren Czesław Miłosz (1980), Władysław Reymont (1924) und Henryk Sienkiewicz (1905) ausgezeichnet worden. Das Stockholmer Preiskomitee begründete seine Entscheidung mit Tokarczuks „erzählerischer Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform“ repräsentiere.
Grenzüberschreitungen sind in der Tat ein Markenzeichen der 57-jährigen Autorin. 2005, bei einer gemeinsamen Veranstaltung in Breslau, lud sie das Publikum zu einer neuen Poetik der europäischen Grenzen ein.
„Sollte es sich plötzlich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen mühelos erlernbar sind, dass Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem Hotel genauso zurechtfinden können wie in jedem Buch, ganz gleich, wie exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen.“
Die Jakobsbücher, aus dem Polnischen von Lisa Palmes u. Lothar Quinkenstein, Kampa Verlag, Zürich 2019, 1.184 S., 31,99 Euro
Unrast, aus dem Polnischen v. Esther Kinsky, Kampa Verlag, Zürich 2019, 464 S. 18,99 Euro
Mit diesen Sätzen hat Tokarczuk, schon damals eine der wichtigsten polnischen Autoren der Gegenwart, ein neues, wenn auch literarisches Kapitel der Erzählung Europas aufgeschlagen. Nicht mehr den Grenzen der Nationalstaaten folgt diese Erzählung, sondern dem Lauf der Flüsse.
Sie werden zum geografischen Ordnungsmuster des Kontinents. In ihrem Aufsatz über die „Macht der Oder“ sinniert Tokarczuk darüber, dass nicht mehr Deutsche und Polen, Litauer und Weißrussen in den Flussniederungen Mitteleuropas leben würden, sondern Oderländer, Weichselländer, Memelländer, gleich welcher nationalen Herkunft.
Es ist vor allem der Glaube an die Natur (auch die des Menschen), der in Tokarczuks Romanen immer wieder Gestalt annimmt. Ein Glaube, der ihr den Wechsel der Perspektive ermöglicht wie kaum einer anderen. Eine Kraft, die etwas Mythisches hat so wie ihr früher Roman „Ur und andere Zeiten“, in dem sie in eindrucksvollen Bildern einen Bogen der Geschichte Polens von 1914 bis heute schlägt. Geburt, Leben, Sterben, der Lauf der Dinge eben.
Vorwurf des Ökoterrorismus
Tokarczuks Lauf der Dinge begann 1962 in Sulechów an der Oder, in Polens ehemaligem „Wilden Westen“, den ehemals deutschen Gebieten. Das Thema Polen und Deutsche beschäftigte sie von Anfang an, während ihres Studiums der Psychologie in Warschau, in ihren Romanen wie „Taghaus, Nachthaus“, in ihrem essayistischen Werk.
Die Oder, aber auch der Glatzer Kessel an der polnisch-tschechischen Grenze, in dem sie bei Nowa Ruda eine dörfliche Idylle gefunden hat, ist ihr dabei zu einem Raum geworden, der allerlei offen lässt, ein Grenzland, das eigentlich niemandem gehört. Es sei denn, denen, die es bestellen, mit ihren Geschichten, Erinnerungen, ihrem Leben, ihren Utopien.
Im englischsprachigen Raum ist Tokarczuk spätestens seit dem Man-Booker-Preis für ihr Buch „Unrast“ bekannt. Dem deutschen Publikum begegnete sie zuletzt nicht nur über ihre Bücher, sondern auch mit dem Kinofilm „Pokot“ (Die Spur), der auf den Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ zurückgeht.
Das Drehbuch zu diesem Film, in dem eine alte, einsame Frau im Glatzer Bergland den Kampf gegen Jäger und die Lust am Töten aufnimmt, hat Tokarczuk zusammen mit der Altmeisterin des polnischen Kinos, Agnieszka Holland, geschrieben. Es hat ihr in Polen den Vorwurf des Ökoterrorismus eingebracht.
Vermutlich spielte es für die Jury in Stockholm keine Rolle, dass in Polen am Sonntag Wahlen sind. Auch so wäre die Verleihung des Literaturnobelpreises an Olga Tokarczuk eine literarische und politische Entscheidung gewesen. Denn neben ihren Büchern, die sich oft allzu schnellen Lesarten entziehen, ist die Schriftstellerin und Feministin immer auch eine politische Person gewesen.
Dennoch wird der Nobelpreis für Tokarczuk in Polen nicht nur Freude, sondern auch Ärger auslösen. Schon vor fünf Jahren, als ihr Opus magnum, die „Jakobsbücher“, erschienen, löste sie eine heftige Kontroverse aus. Das Buch über den selbsternannten Erlöser Jakob Josef Frank, das in der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts spielt, kann auch als Allegorie auf die polnische Gegenwart gelesen werden. Und Tokarczuks Aussage, dass Polen in dieser Zeit als Kolonialmacht Minderheiten drangsaliert habe, führte zu Morddrohungen gegen die Autorin.
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