Vor Landtagswahl in Thüringen: Speeddating im Lehrerzimmer
An einer Berufsschule in Jena stellen sich sechs DirektkandidatInnen den Fragen der SchülerInnen – auch die AfD ist mit dabei.
Um sie herum fünf Schülerinnen und Schüler, die sie mit Fragen bombardieren: wie sie die Elektromobilität auf dem Land umsetzen will. Ob sie den Unterrichtsausfall bei den Fridays-for-Future-Demos nicht für bedenklich halte. Ob eine 16-Jährige wirklich schon bei der komplexen Klimadebatte mitreden könne.
Es klingt höflich, wie die FachoberschülerInnen mit der Ministerin reden. Aber auch selbstbewusst. Vier von ihnen sind schon über 18, dürfen in gut einem Monat also mit über den Thüringer Landtag bestimmen – und über die Frage, ob Siegesmund weiter Ministerin bleibt.
Während die Grünen-Politikerin antwortet, notiert eine von ihnen Siegesmunds Schlagwörter: landesweite Mobilitätsgarantie, 350 Ladestationen für E-Autos unter Rot-Rot-Grün, Klimaziele von Paris. Es wäre sicher noch das ein oder andere Stichwort dazugekommen, hätte nicht eine helle Glocke die Ministerin jäh im Satz unterbrochen. Das Signal, dass die acht Minuten rum sind – und die fünf BerufsschülerInnen einen Tisch weiter rotieren sollen. Dort, wo bereits eine weitere Politikerin auf sie wartet: Rosa Maria Haschke von der CDU.
Acht Minuten pro PolitikerIn
Im vornehmen Lehrerzimmer der Stoy-Schule – Fischgrat-Parkett, breite Fenster, hohe Decke – findet an diesem Vormittag ein politisches Speeddating statt. Insgesamt 90 Jugendliche und junge Erwachsene kommen reihum mit sechs DirektkandidatInnen aus Jena ins Gespräch. Wer wo sitzt, zeigen schon die Wahlkampfplakate für die Landtagswahl Ende Oktober, die hinter den KandidatInnen an Stellwände gepinnt worden sind. Neben Siegesmund, die wie vor fünf Jahren als Direktkandidatin für den Wahlkreis Jena I antritt (den dann der Kandidat der Linkspartei gewann), und der CDUlerin Haschke (Wahlkreis Jena II) sind auch die DirektkandidatInnen von FDP, Linkspartei, SPD, $(LB3685715:und der AfD|_blank)$ gekommen.
Eingeladen hat sie Sozialkundelehrerin Uta Seibold-Pfeiffer. Es ist nicht das erste Mal, dass die 54-Jährige zwischen ihren SchülerInnen und PolitikerInnen einen „direkten Kontakt auf Augenhöhe“ herstellt, wie sie es formuliert. Seibold-Pfeiffer organisiert Treffen mit Abgeordneten im Erfurter Landtag und im Bundestag in Berlin. Statt Lehrbücher bringt sie Zeitungsartikel zu aktuellen Debatten mit in den Unterricht. Und immer vor Landtags- und Bundestagswahlen organisiert sie an der Stoy-Schule das Kandidaten-Speeddating.
Damit es wirklich eine Begegnung auf Augenhöhe wird, opfert Seibold-Pfeiffer mehrere Unterrichtsstunden für die Vorbereitung. In denen heißt es für ihre SchülerInnen: Wahlprogramme studieren, DirektkandidatInnen googeln, Fragen formulieren. „Eine intensive Vorbereitung“, sagt Seibold-Pfeiffer.
Tatsächlich stellen die SchülerInnen passgenaue Fragen: CDU-Frau Haschke muss sich zum Pflegenotstand äußern, die FDP-Kandidatin zum enthemmten Mietenmarkt, der SPD-Kandidat zur gerade beschlossenen CO2-Bepreisung, und der AfD-Mann soll das ungleiche Rentenniveau zwischen Ost und West erklären. Die Fragen an die Linkenpolitikerin entfallen – sie hat sich verspätet und fehlt bei der ersten Runde.
„Beeindruckend gut vorbereitet“
Dass die Schülerinnen Schüler sich gründlich mit den Wahlprogrammen beschäftigt haben, ist auch Umweltministerin Siegesmund aufgefallen. „Die waren sehr, sehr gut vorbereitet“, sagt die Grüne nach dem Speeddating fast schwärmerisch. „Da vergehen die drei Stunden wie im Flug.“ Und auch der 34-jährige SPD-Direktkandidat Lutz Liebscher, der erstmals in den Erfurter Landtag einziehen will, lobt: „Ich bin mit Zitaten aus dem SPD-Regierungsprogramm konfrontiert worden. Das war schon beeindruckend.“
Spricht man Seibold-Pfeiffer auf die Mitarbeit ihrer SchülerInnen an, wird sie hingegen ernst. „Es ist natürlich schön, wenn unsere Schüler die Wahlprogramme verschiedener Parteien miteinander vergleichen“, sagt die Sozialkundelehrerin, die seit 1992 an der Schule unterrichtet. „Wir hoffen aber auch darauf, dadurch die demokratischen Parteien und somit die Demokratie zu stärken.“
Wie wenig das bislang klappt, zeigt sich bislang unmittelbar nach jedem Speeddating, und zwar wenn die Stoy-Schule die sogenannten $(LB3453788:Juniorwahlen|_blank)$ durchführt. Das sind Spielwahlen, die die Schule wenige Tage vor den Landtags-, Bundestags- und Europawahlen abhält. Und bei denen regelmäßig die AfD weit vorn liegt. Seibold-Pfeiffer nennt die Ergebnisse der letzten Jahre „enttäuschend oder erschreckend“.
Bei den letzten Juniorwahlen kurz vor der Europawahl Ende Mai landete die AfD mit 16,5 Prozent der Stimmen sogar auf dem ersten Platz – im bundesweiten Schnitt erreichte die Partei bei den beteiligten SchülerInnen gerade mal 6,5 Prozent. Die Grünen hingegen, die bei den Juniorwahlen im bundesweiten Schnitt mit weitem Abstand auf Platz eins kamen, schafften es $(LB3437114:an der Stoy-Schule nur auf den dritten Platz|_blank)$. Lehrerin Seibold-Pfeiffer erklärt dies mit der sozialen Herkunft der SchülerInnen: „Viele kommen zu uns ohne Schulabschluss und kämpfen, ihn hier zu schaffen. Wer sich als junger Mensch abgehängt fühlt, wählt vielleicht häufiger AfD.“
„Keine Illusionen“
Ein anderes Kriterium sei sicher der Wohnort. Viele SchülerInnen der Stoy-Schule kämen aus dem ländlichen Raum, dort, wo die AfD stärker gewählt werde als in dem traditionell eher linken Milieu der Universitätsstadt Jena, so Seibold-Pfeiffer. Man dürfe sich aber keinen Illusionen hingeben. Auf die Stoy-Schule mit ihrem Wirtschaftsschwerpunkt gingen insgesamt knapp 900 Schülerinnen und Schüler.
„Mit dem Speeddating habe ich heute zehn Prozent erreicht.“ Und selbst bei den zehn Prozent dürfe man nicht davon ausgehen, dass die sofort ihr Wahlverhalten änderten. „Wir sind Realisten genug, dass wir mit dem Speeddating oder der Juniorwahl nicht Hunderte Schüler politisch umorientieren“.
Wie recht Seibold-Pfeiffer mit ihrer Einschätzung hat, zeigt sich im Gespräch mit jenen SchülerInnen, die ihre Wahlentscheidung schon vor dem Speeddating getroffen haben. Wie Max Bornschein. Der 19-Jährige trägt Hemd und Seitenscheitel und ist, wie er sagt, „der FDP zugeneigt“. Seinen Realschulabschluss hat Bornschein an einer Sportschule gemacht, danach hat er zwei Jahre lang als Praktikant das Privatkunden- und Wertpapiergeschäft bei der Sparkasse kennengelernt. Dort will er auch seine Ausbildung machen. An der Stoy-Schule macht er dafür sein Fachabitur.
Die FDP wählt Bornschein, weil er glaubt, dass sie für die Wirtschaft in Jena die besten Entscheidungen treffen würde. Was er sich von seiner Wählerstimme wünscht: dass die Unternehmen in der Region gefördert werden. „Dann ist auch mehr Geld für anderes da.“ Die E-Mobilität zum Beispiel. Seine Wahlentscheidung konnte selbst die etwas oberlehrerhafte FDP-Direktkandidatin nicht umstoßen.
Ost-West kein Thema
Ähnlich ist es auch bei Lisa Herbrig. Die 24-Jährige hat schon eine Ausbildung bei der Telekom und drei Jahre Berufserfahrung hinter sich. Nun sattelt sie um, um später als Sport- und Geografielehrerin zu arbeiten. Auch sie hat ihre Wahlentscheidung schon gefällt. Für welche Partei, das will Herbrig nicht verraten. Zweierlei lässt sie aber durchscheinen: dass sie für die AfD wenig Sympathie hegt – und dass ihr das Klima sehr am Herzen liegt.
Worin sich Bornschein und Herbrig einig sind: dass sie das Kandidaten-Speeddating gern schon früher an einer Schule erlebt hätten, in der achten oder neunten Klasse. Und: dass sie nicht in den Kategorien Ost und West denken, auch wenn die AfD bei den vorangegangen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg mit dem Thema viel Aufmerksamkeit erhalten hat. „Ich denke nicht in diesen Kategorien“, sagt Lisa Herbrig. „Ich bin nicht in der DDR geboren. Für mich gibt es nur ein Land.“ Weder in ihrem noch in Bornscheins Freundeskreis sei das „Ost-Thema“ bestimmend.
So erlebt das auch Uta Seibold-Pfeiffer im Unterricht. Immer zu Stundenbeginn fordert sie ihre SchülerInnen auf, zu berichten, was sie bewegt, was sie aufregt. Das sind mal die Klima-Demos, mal das kostenlose Azubi-Ticket, mal die Debatte über die Benzin-Steuer. Aber schon auch mal „klassische Migrationsthemen“. So ähnlich gehe es auch anderen Lehrkräften an der Stoy-Schule. Das Kollegium blickt deshalb mit Sorge auf die anstehenden Wahlen.
Eine Hoffnung hat die Sozialkundelehrerin aber: dass sich die SchülerInnen nach dem Speeddating weiter über die Parteien und deren Inhalte unterhalten: im Freundeskreis, in der Familie. Immerhin sei es ja nicht ausgeschlossen, dass jemand die Positionen aus seinem Umfeld noch überdenke. Bald wird Uta Seibold-Pfeiffer es wissen: Am 22. Oktober finden die schulinternen Juniorwahlen statt – und fünf Tage später dann die Landtagswahl, bei der viele SchülerInnen der Stoy-Schule dann erstmals richtig wählen dürfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!