Umstrittener Fraktionsvorsitzender: Der ambivalente Herr Güngör
Warum die Wahl Mustafa Güngörs zum Chef der Bremer SPD-Fraktion so problematisch ist, erklärt der exilierte Politologe Çetin Gürer.
S chon im April 2015, noch vor den damaligen Bürgerschaftswahlen, hatte der jetzt neu zum SPD-Fraktionsvorsitzenden bestimmte Mustafa Güngör gegenüber den UETD-Kameras türkei-stämmige Wähler_innen vor der Gefahr gewarnt, dass rechtsextremistische, islamfeindliche und menschenverachtende Bewegungen wie die AfD in Europa an Stärke gewinnen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, rief er sie dazu auf, zur Wahlurne zu gehen und die Zukunft mitzubestimmen.
Ähnlich drückt er sich bei jeder Gelegenheit aus: „Ich habe Angst vor dem Wähler, der sonst vielleicht die CDU gewählt hätte, jetzt aber die AfD. Der ganz normale, nicht radikale Familienvater, der das ganze mehrheitsfähig macht“, hieß es in einer SPD-internen Vorstellungsrunde im Jahr 2016.
Im Grunde ist es sicher von Vorteil für die bremische Politik, aber vor allem für die Bremer SPD, einen Fraktionsvorsitzenden gewählt zu haben, der sich ohne Vorbehalt gegen jegliche Form vom Rechtsextremismus beziehungsweise menschenverachtenden Ideologien positioniert. Es lässt sich allerdings fragen, ob Güngör das tatsächlich tut?
Çetin Gürer, 42, Soziologe, Master an der Uni Hamburg, wurde 2015 in Ankara mit einer Studie über Autonomie-Modelle am Beispiel der kurdischen Selbstverwaltung promoviert, danach Dozent und Assistenz-Professor an der Nişantaşı University, seit 2016 als Fellow der Philipp Schwartz Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Uni Bremen.
Man findet zum Beispiel keine klare Aussage von Herrn Güngör, durch die er sich mit den Menschen solidarisieren würde, die aus staatspolitischen, rassistischen oder demokratiefeindlichen Gründen innerhalb der letzten vier Jahre aus der Türkei geflohen sind. Man findet keine klare Aussage, durch die er die von Erdoğan und seiner Regierungspartei geführte Repressionspolitik verurteilen würde.
Keine Geste der Solidarität
Gerade, weil er seit Langem bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion ist, sollte man von ihm erwarten, dass er sich zumindest einmal mit den Wissenschaftler_innen trifft, die infolge der Einschränkung und Unterdrückung der akademischen Freiheiten die Türkei verlassen und sich in Bremen niedergelassen haben – zum Austausch und als Geste der Solidarität. Als einer von jenen Wissenschaftlern habe ich Herrn Güngör bislang nirgendwo in Bremen treffen und mich mit ihm austauschen können.
Kann es ein Zufall sein, dass sich die Bahnen eines Kämpfers gegen den Rechtsextremismus, wie Herrn Güngör, und den Opfern von Erdoğans rechtsextremer Politik in dieser Stadt der kurzen Wege nicht ein einziges Mal überschneiden?
Es wirkt eher wie eine bewusste Entscheidung, dass er sich von den neu eingewanderten Opfern Erdoğans in Bremen und Deutschland mit großem Abstand fernhält, die dessen autokratische Staatspolitik kritisieren, während sich die deutsche und bremische Öffentlichkeit, politische Parteien, Gewerkschaften, Presse, besonders für die Wissenschaftler_innen und Journalisten_innen aus der Türkei interessiert und sie unterstützt. Warum traut er sich nicht, seine antirassistische, rechtsextremismuskritische Haltung gegenüber Erdoğan und der AKP zum Ausdruck zu bringen?
Keine kritische Äußerung
Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, dass er nicht als Rassismus und Staatsrepression wahrnimmt, was in der Türkei besonders den Kurden, den Aleviten sowie den syrischen Flüchtlingen angetan wird. Dass die AKP mit der ultrarassistischen Partei MHP seit vier Jahren eine Machtkoalition bildet und die Demokratie unterhöhlt, gilt wahrscheinlich für ihn nicht als eine Gefahr wie die AfD.
Die Wahl Mustafa Güngörs zum Chef der SPD-Fraktion haben frühere Abgeordnete scharf kritisiert worden: Dem 41-Jährigen wird vorgeworfen, zumindest taktisch Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayip Erdogan und seiner Partei, der AKP, zu suchen. Güngör bestreitet das.
Der Vorsitz der Bremer SPD-Fraktion ist ein Machtfaktor: So hatte ihn 1900 bis 1905 der künftige Reichspräsident Friedrich Ebert inne, nach immerhin 1945 vier spätere Bremer Bürgermeister. (taz)
Während er die zurecht verurteilt, bleibt ihm scheinbar gleichgültig, dass Erdoğan in der Türkei gewählte kurdische Bürgermeister absetzt, kurdische Politiker wie den damaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş im Widerspruch zum Urteil des EU-Menschenrechtsgerichtshofs hinter Gittern hält, Journalisten wie Deniz Yücel ohne Anklageschrift monatelang einsperrt, die Unterzeichner_innen der Friedenspetition von den Academics for Peace einsperrt und feuert …
Trotz all diesen unumstrittenen Fakten ist von diesem Bremer SPD-Politiker keine kritische Äußerung, keine reflektierte Haltung, keine nachvollziehbare Distanz zu Erdoğan und seinen Sprachrohren in Deutschland überliefert. Nicht eine. Aber er verurteilt Rechtsextremismus und Rassismus, setzt sich für die Demokratie ein! Wer kann daran glauben?
Immer doppeldeutig
Herr Güngör bleibt konsequent doppeldeutig, sodass die entscheidende Frage lautet: Fehlt diesem „überzeugten Sozialdemokraten“, die Urteilskraft, das Böse und Gute voneinander zu unterscheiden? Oder ist er bloß ein pragmatischer Politiker, der nur das eigene persönliche Interesse verfolgt und darum auf eine öffentliche Stellungnahme zu kritischen Themen verzichtet, weil das seine Karriere gefährden würde?
Es wird in der deutschen Öffentlichkeit und den Medien oft die Frage gestellt und diskutiert, warum die Deutsch-Türken so einen Autokraten wie Erdoğan und seine Partei so sehr lieben und unterstützen, obwohl sie in Deutschland in der Demokratie leben, sie genießen und von ihr Gebrauch machen. Mit dieser Frage ist die türkische Community ständig konfrontiert. Ich denke, es liegt nun in der Verantwortung der Bremer SPD diese Frage zu beantworten und die deutsche Öffentlichkeit aufzuklären.
Wie kann es sein, dass Bremens SPD jemanden zum Fraktionsvorsitzenden wählt, der jede Gelegenheit auslässt, sich von Erdoğan zu distanzieren, obwohl er in Deutschland in der Demokratie lebt? Wenn wir als Bürger diese indirekte Unterstützung verstehen, werden wir die möglichen Gründe dafür auch begreifen, warum das türkische Regime so viel Unterstützung erhält von seinen hier in Deutschland lebenden Bürger_innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Wahlkampfchancen der Grünen
Da geht noch was
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“