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„Sobald sie den Mund verlässt, ist sie eklig “

Spucken ist natürlich, kann Spaß machen und nützlich sein. Trotzdem finden die meisten Speichel eklig. Warum eigentlich?

Foto: privat

Tim Klucken

ist 38 Jahre alt, Psychologischer Psychotherapeut und seit 2016 Professor für Klinische Psychologie an der Universität Siegen.

Interview Angelika Sylvia Friedl

taz am wochenende: Herr Klucken, Sie beschäftigen sich mit Angststörungen und Ekel, wie sind Sie auf das eher abseitige Thema gestoßen?

Tim ­Klucken: Ekel gehört zu den menschlichen Grundemotionen, ich fand ihn schon immer faszinierend. Ein großer Forschungsschwerpunkt in früheren Arbeitsgruppen war die Frage, was im Gehirn passiert, wenn wir uns ekeln.

Das Ausspucken betrachten vielen Menschen als ekelhaft. Warum gilt das nicht für den Speichel im Mund?

Hier spielen Bewertungsprozesse eine große Rolle. Also wie wir ein Verhalten einschätzen und bewerten. Die Spucke im eigenen Mund ist noch okay. Aber stellen Sie sich vor, Sie spucken auf einen Kaffeelöffel, lassen den fünf Minuten liegen und nehmen ihn dann wieder in den Mund. Die meisten Menschen würden das sehr ungern machen, obwohl eigentlich an der Spucke nichts Schlimmes dran ist. Sobald die Spucke den Körper verlassen hat, finden wir sie eklig.

Weil sie nass und glitschig ist?

Ja. Ekel kann hervorgerufen werden durch Geschmack oder Geruch, aber auch durch Konsistenz. Europäer bewerten zum Beispiel glibbrige Sachen als eklig oder zumindest als unangenehm. In anderen Kulturen ist das teilweise anders. Wir kennen wenige Speisen, außer vielleicht den Wackelpudding, die eine glibbrige Konsistenz haben.

Spucken kann aber auch Spaß machen, wie beim Kirschkernspucken, oder ist nützlich, wenn man mit seinem Speichel eine beschlagene Taucherbrille klar wischt.

Das ist wieder ein Beleg dafür, dass es nicht per se um die Spucke geht, sondern dass die Bewertung einen entscheidenden Anteil hat. Die Psychologen nennen das ABC-Modell. A ist der Auslöser, B die Bewertung und C sind die Konsequenzen nach dem englischen Wort „consequences“. Nicht der Auslöser, die Spucke, ist entscheidend, ob wir etwas gut oder schlecht finden, sondern unsere Bewertung. Wir gucken Leuten beim Weitspucken zu und feuern sie an. In einer anderen Situation beobachten wir Leute, wie sie ausspucken und sind angeekelt. Im Grunde ein und dieselbe Situation. In der psychologischen Forschung gibt es viele Belege, dass die Bewertung über unsere Gefühle entscheidet.

Funktioniert das auch in ganz anderen Kontexten?

Ein klassisches Beispiel: Sie wohnen in einem Dorf und nachts klappert das Fenster. Sie denken, ein Einbrecher kommt, Sie bewerten also. Dann kriegt man Angst, das wäre die Konsequenz. Sie können aber auch denken, ach, ich habe vergessen, das Fenster zu schließen, und ärgern sich über Ihre Vergesslichkeit. Derselbe Auslöser, aber ganz unterschiedliche Bewertungen.

Warum spucken Menschen in der Öffentlichkeit aus? Man könnte den Speichel doch auch hinunterschlucken oder in ein Taschentuch tun.

Hier spielt wohl das sogenannte Lernen vom Modell eine Rolle. Man sieht es von anderen im Fernsehen und auf der Straße. Auch gesellschaftlich tradierte Normen wirken, wenn Kinder zum Beispiel hören, es ist eklig, die eigene Spucke hinunterzuschlucken. Ich zum Beispiel mag Ausspucken überhaupt nicht. Da habe ich noch meine Mutter im Ohr, wie sie sagt: „Man spuckt nicht aus.“

Die Meinungen dazu haben sich im Laufe der Zeit geändert.

Genau, im Mittelalter hatten die Leute keine Probleme mit dem Ausspucken. Es gab Spucknäpfe, und es war in Ordnung, beim Essen unter den Tisch oder hinter sich zu spucken. Später wurde Spucken dann als unanständig betrachtet.

Aus welchen Gründen?

Zum Teil vielleicht, weil Speichel Überträger von Krankheiten ist wie zum Beispiel bei Tröpfcheninfektionen. Das wusste man früher nicht. Seitdem man das weiß, wurde Spucken als gefährlich betrachtet. Das ist sicher nicht der einzige Grund, warum Spucken sanktioniert wurde. Auch die Tendenz des Menschen, sich von anderen abzuheben, könnte es erklären.

Hat die Sanktionierung auch damit zu tun, dass die Menschheit nach der These des Soziologen Norbert Elias mit fortschreitender Zivilisation immer kultivierter geworden ist?

Na ja, was heißt kultiviert? Kultiviertheit ist meiner Meinung nach zu mehrdimensional und vielschichtig, als dass es auf Ausspucken zu reduzieren wäre.

Stimmt es, dass Männer mehr ausspucken als Frauen?

Vom Gefühl her schon. Ich habe aber keine Studie gefunden, die das untermauern kann. Vielleicht werden Frauen mehr als Männer sanktioniert. Wenn ein kleines Kind spuckt, werden wahrscheinlich 80 von 100 Eltern ein Mädchen strenger beurteilen als einen Jungen. Das ist aber eine Hypothese.

Warum spucken Fußballer während des Spiels dauernd aus?

Beim Leistungssport atmen wir vermehrt über den Mund. Dadurch trocknet der Mund schneller aus und die Speichelkonsistenz ändert sich. Es fühlt sich klebrig an. Es ist dann wahrscheinlich angenehmer, den Speichel auszuspucken. Dann kommt noch der Nachahmungseffekt. Die anderen spucken, also mache ich das auch.

Warum sind wir beschämt, wenn uns jemand anspuckt oder wenn auf unsere Sachen gespuckt wird?

Zum einen geht es wieder um Bewertungen. Man lernt, Spucken gehört sich nicht. Wenn ein Kind ein anderes anspuckt, wird es von den Lehrern, Eltern und Erziehern geschimpft. Es hört: Das darfst du auf keinen Fall wieder tun! Es ist auch eine Sache der Erziehung. Kinder fragen: Was soll ich tun, ich werde von dem Paul gestoßen. Dann sagen die Eltern: Ruf doch einen Erzieher oder zur Not schubse zurück. Eltern würden wohl niemals sagen: Spuck ihm doch ins Gesicht. Aber ich erinnere mich auch an eine Umfrage, wo manche gesagt haben, dass sie Anspucken nicht so schlimm finden. Spucke kann man abwischen, sie tut nicht weh. Sie fanden es schlimmer, eine runtergehauen zu bekommen. In einigen Interviews, die ich geführt habe, wurde das explizit so gesagt.

Aber Spucken ist doch gesellschaftlich mehr geächtet?

Richtig. Eine Vermutung ist, dass durch Spucken eher Verachtung ausgedrückt wird. Beim Schlagen und Treten sind die Hauptemotionen Wut und Ärger. Die wenigsten spucken auf jemanden aus Ärger, sondern weil sie ihn oder sie verachten. Aus diesem Grund ist es wahrscheinlich auch geächteter, weil uns in der Erziehung beigebracht wird, dass man Menschen nicht verachten soll. Mit anderen Worten: Mit Schlägen wird oft ein bestimmtes Verhalten sanktioniert, beim Anspucken wird der ganze Mensch herab­gesetzt, „du bist gemein, bist mies“.

Angenommen, ich ekele mich vor Speichel und Spucke. Wäre das therapeutisch zu behandeln?

Da muss man differenzieren. Reine Angststörungen sind im Allgemeinen leichter zu behandeln als Störungen, die mit Ekelgefühlen verbunden sind. Durch Studien im Grund­lagen­bereich haben wir herausgefunden, dass Ekel schwieriger zu verändern ist als Ängste.

Wieso ist das so?

Also grundsätzlich ist Ekel etwas positives. Ekel schützt uns vor verdorbenen Sachen und vor Vergiftungen. Wer keinen Ekel kennt, hat ein großes Problem. Es ist eine sehr mächtige Basisemotion. Wer etwas Verdorbenes zu sich genommen hat, kann das nicht mehr zurück­nehmen.

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