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Schrecken ohne Apokalypse

Im Hamburger Literaturhaus geht es um die Themen Macht, Klima und Emotion in dystopischer Literatur

Eine Welt, in der alles ver- und gekauft werden kann? Was dem einen Angst bereitet, klingt für andere paradiesisch

Von Alexander Diehl

Gemeinhin erzählt wird die Sache so: Fanden sich lange eher utopische Entwürfe, also Ideen vom Besseren, davon dass der Mensch Fesseln abwerfen würde, die der Ausbeutung oder jene der Natur, kippte das im Prinzip mit der Industrialisierung: „Eine Krise des Imperialismus. Eine Krise des Idealismus und des Fortschritts“, so der britische Literaturwissenschaftler Matthew Beaumont. „Das Ganze fand seinen Höhepunkt im Ersten Weltkrieg. All die utopischen Träume, die auf Aufklärung und Rationalismus beruhten, wurden unter den Stiefeln der Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zermalmt.“

Man könnte aber auch einfach über Sibylle Berg sprechen und ihren jüngsten Roman: „GRM. Brainfuck“ lässt kaum ein einschlägiges Kästchen unangekreuzt von denen, die das Genre der Dystopie markieren: Verwüstung und Zerfall; technologische Innovation und soziale Ungleichheit – die schon unser Heute prägen –, weitergedacht ins Extreme, in Ausprägungen, die in ein, zwei Generationen freilich sehr viel vorstellbarer sein werden, sehr viel weniger zugespitzt.

Wie weit weg von uns ist sowas eigentlich? Welchen schon jetzt diagnostischen Wert hat das „düstere Durchblicker-Pathos“, wie es die taz „GRM“ attestierte? Fragen, die helfen können, die Faszination dystopischen Schreibens (und Lesens) zu verstehen, ob es nun um Bücher geht oder andere Formen, um den zuverlässig prominent genannten George Orwell, die „Matrix“-Filmtrilogie oder die Serie „The Handmaid’s Tale“.

„In einem Land nach unserer Zeit“ ist der Abend überschrieben, den am Donnerstag Studierende im Hamburger Literaturhaus ausrichten: Um „Macht, Klima und Emotion in dystopischer Literatur“ soll es gehen, wozu man – neben dem Literaturwissenschaftler Thomas Klein und einem nicht namentlich benannten „Mitglied der ‚Fridays for Future‘-Organisation“ – auch Gabriele Albers eingeladen hat, Volkswirtin, Journalistin und einst Grünen-Bürgerschaftskandidatin; Anfang vergangenen Jahres erschien ihr Roman „Nordland – Hamburg 2059. Freiheit“.

„Um an der Ungerechtigkeit dieser Welt nicht zu ersticken“, so Albers, habe sie sich „ausgemalt, wie unsere Welt aussehen könnte, wenn es so weitergeht wie bisher“. Ihr Ergebnis: Ein Ort, an dem alles käuflich ist; ein gefährlicher Ort, besonders für Frauen. Das Buch war ein Überraschungserfolg für den kleinen Hamburger Acabus-Verlag, Band zwei kommt im Lauf des Jahres (klar: in die Läden).

Eine Welt, in der alles ver- und gekauft werden kann? Was dem einen Angst bereitet, klingt für andere paradiesisch. Wie mögen das etwa Albers’einstige Kolleg*innen sehen – bei Capital, Financial Times Deutschland oder dem Nullerjahre-Digital-Boom-Organ Net-Business? Auch Orwells „1984“ lässt sich ja so lesen oder so, und das schon lange bevor jeder 4chan-Verschwörungsfreak ihm Fernes mit all den einschlägigen Vokabeln zu belegen begann: „Neusprech“, das sind immer die anderen. Und fragen Sie doch mal Verantwortung Tragende in mancher aufstrebenden Wirtschaftsnation, ob Überwachung nicht sehr wohl ihr Gutes hat – wenn Sie Zeit finden zwischen dem Schrittzähler-Bonusprogramm der Krankenkasse und dem Kitaeltern-Gelärme bei Whatsapp.

Und wenn nun, wie am Donnerstag, Konzeption und Durchführung des Abends Teil eines Uni-Seminars „Buch braucht Bühne“ sind, gewidmet „Projektmanagement im Literaturbetrieb“: Wie eindeutig ist das eine harmlose, ja: goldrichtige Ertüchtigung für werdende Philolog*innen, die, unterstellt, so was gebrauchen können? Und nicht doch auch etwas von dem, was der Theoretiker Mark Fisher als „boring dystopia“ zu fassen versuchte: ein Schrecken auch ohne Apokalypse, eine „Mischung aus Silicon-Valley-Ideologie, PR und Werbung“, „Kalifornische Ideologie ohne Kalifornischen Sonnenschein“ – und fürchterlich banal?

Do, 11. Juli, 19.30 Uhr, Literaturhaus Hamburg

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