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„Eine Woche ist das absolute Minimum“

Doch selbst die kann sich in Deutschland jedeR Fünfte nicht leisten, sagt Armutsforscherin Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule

Foto: privat

Susanne Gerull

57, Professorin für Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule. Schwerpunkte ihrer Arbeit: Armut und Wohnungs­losigkeit; u. a. Fachgruppensprecherin der Landesarmutskonferenz Berlin.

Interview Manuela Heim

taz: Frau Gerull, was sagt die Armutsforschung zum Thema Urlaub?

Susanne Gerull: Die Möglichkeit, Urlaub zu machen, ist tatsächlich als Armutsindikator verankert. Und zwar in der von der EU vorgeschriebenen Armutsberichterstattung. Es gibt dort einen Faktor, der nennt sich „schwere materielle Deprivation“. Da werden neun Dinge genannt, die man deshalb nicht hat, weil man sie sich nicht leisten kann. Da sind Telefon dabei, Waschmaschine, Fernseher, die Freiheit von Mietschulden, die Möglichkeit, seine Wohnung ausreichend zu beheizen. Aber eben auch die Möglichkeit, sich wenigstens eine Woche Urlaub fernab des eigenen Zuhauses zu leisten. Wer sich mindestens vier dieser Dinge nicht leisten kann, gilt als materiell benachteiligt.

Wie viele Menschen können sich denn keinen Urlaub leisten?

Fast jeder Fünfte kann sich diese eine Woche Urlaub nicht leisten. Daran sieht man schon: Das sind mehr als die knapp 16 Prozent, die als relativ arm gelten, weil sie über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen. Und es sind mehr Menschen, als die, die Sozialleistungen beziehen.

Ein Auto braucht ja nun wirklich nicht jeder. Gilt das auch für eine Woche Urlaub?

Man kann über die einzelnen Faktoren diskutieren, schon aus ökologischen Gründen. Aber den Urlaub finde ich deshalb so interessant, weil sich da auch ein Bewusstseinswandel zeigt. Früher gab es zum Beispiel die Einstellung, Arbeitslose brauchen ja kein Urlaub, die haben doch quasi das ganze Jahr frei.

Was bedeutet Urlaub in diesem Zusammenhang?

Entspannung vom Alltag. Egal ob es der stressige Job ist oder das Über-die-Runden-Kommen in einem Leben mit Sozialhilfe. Urlaub ist ein Gesundheitsfaktor. Es gibt auch nicht umsonst den Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und Gesundheit. Der hängt nicht nur damit zusammen, dass man sich vielleicht bestimmte Medikamente oder Behandlungen nicht leisten kann, sondern mit mehreren Lebensbereichen. Nicht zuletzt hat Urlaub vor allem für Kinder noch einmal eine besondere Dimension für die Teilhabe. Spätestens dann, wenn nach den Sommerferien alle erzählen, was sie für tolle Fernreisen gemacht haben und es dann Kinder gibt, die gar nichts erzählen, weil sie einfach nichts zu erzählen haben oder denken, sie haben nichts zu erzählen. Auch wenn es für Kinder in dieser Stadt sicher tolle Angebote gibt, ist es oft doch negativ konnotiert, wenn man es sich nicht leisten kann, wegzufahren.

Ist es auch eine Frage von Bildung, ob ich mit wenig Geld Urlaub machen kann?

Bis auf einige Ausnahmen gehe ich davon aus, dass Menschen mit wenig Geld, gerade auch Familien, sehr wohl die Fertigkeiten haben, zu schauen, welche günstigen Möglichkeiten es gibt, Urlaub zu machen. Und gerade weil Urlaub teilweise so günstig geworden ist, die eine Woche Mallorca als Pauschalreise kostet ja manchmal weniger als der Campingurlaub in Brandenburg, ist es doch interessant, dass sich so viele Menschen selbst diese eine Woche nicht leisten kann. Ich denke eher, der Kern der Sache ist, dass Menschen mit wenig Geld permanent Verwendungsentscheidungen treffen müssen, für das eine und gegen das andere. Urlaub ist dann schnell der Luxus, auf den verzichtet werden muss.

In Zeiten von Fridays for Future lässt sich ein Leben ohne Auto, Fernseher und Flugreisen auch gut als verantwortungsbewusster Lebensstil betrachten. Was genau macht den Unterschied aus?

Dass es eine selbstbestimmte Entscheidung ist. Die Dinge, die ich mir nicht leisten kann, gewinnen eine andere Bedeutung als die, auf die ich freiwillig verzichte. Das ist eine ganz andere Ausgrenzungserfahrung.

Und die eine Woche Urlaub, reicht die tatsächlich aus, um Ausgrenzungserfahrungen zu vermeiden?

Das ist ja nur das absolute Minimum, das da als Armutsindikator festgeschrieben wurde. Wenn alle um mich herum vier Wochen nach Thailand oder sonst wohin fliegen, dann ist auch die eine Woche Campen in Brandenburg nicht vergleichbar. Das ist ja das gleiche wie mit den Telefonen: Da reicht es eben heutzutage auch nicht, eins zum telefonieren zu haben, wenn die anderen mit 12 Jahren das neueste Smartphone mit in die Schule bringen.

Mir fallen neben Familien auch ältere Menschen ein, für die ein Leben ohne Urlaub besonders tragisch sein kann. Gerade in der Zeit des Ruhestands, in der dafür endlich auch Zeit ist.

Das ist ein Lebensabschnitt, in der neben dem Geld auch Faktoren wie gesundheitliche Verfassung und das Thema Einsamkeit eine große Rolle für Ausgrenzung spielen. Da kommt es dann auch auf soziale Ressourcen an, inwiefern ich es mir zum Beispiel zutraue, alleine zu reisen oder mich Reisegruppen für ältere Menschen anzuschließen.

Können staatliche Urlaubsangebote – etwa für Kinder – das Gefühl von Ausgrenzung verringern?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Wenn ich bei den Angeboten etwas finde, worauf ich richtig Lust habe, dann ist das eine gute Sache. Wenn ich bei vergünstigten oder kostenlosen Angeboten nur mitmache, weil ich mir sonst nichts anderes leisten kann, dann bleibt das Gefühl von Ausgrenzung. Letztlich kommt es darauf an, ob ich selbstbestimmt entscheiden kann. Dann ist auch wenig Geld zu haben einfacher zu ertragen, als wenn zum Beispiel das Jobcenter bestimmt, ich darf jetzt mal eine Woche freinehmen.

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