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Absolut Wolodimir

Bei den Unterhauswahlen in der Ukraine erreicht der neue Präsident Wolodimir Selenski die absolute Mehrheit. Optimisten sprechen schon von einer Wahlrevolution. Doch das Programm der Partei „Diener des Volkes“ ist noch immer ziemlich unklar

Revolution mit Krawatte: Präsident Selenski (Mitte) in der Parteizentrale von „Diener des Volkes“. 42 Prozent der UkrainerInnen stimmten für sie. Weit abgeschlagen landet mit 11,5 Prozent die prorussische „Für das Leben“ Foto: Evgeniy Maloletka/ap

Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Noch ist der junge Präsident der Ukraine ausschließlich für Superlative zuständig. Nach dem Sieg bei der Präsidentenwahl im Mai mit mehr als 70 Prozent legte Wolodimir Selenski auch bei der Wahl zur ukrainischen Rada ein Rekordergebnis vor.

Die Partei „Diener des Volkes“ (DdV) erreichte nach bisheriger Auszählung mehr als 42 Prozent. Bei den Direktmandaten sicherten sich die „Diener“ 125 bis 127 der 199 Wahlkreise. Über die Parteiliste kämen noch 121 bis 122 Mandate hinzu. Zusammen wäre damit die absolute Mehrheit der insgesamt 450 Sitze im Kiewer Parlament erreicht. In der Ukraine werden die Hälfte der Mandate über Parteilisten bestimmt, die andere Hälfte durch Direktwahl der Kandidaten in den Wahlkreisen.

Selenski wird damit der erste Präsident der Ukraine, der seit dem Ende des Kommunismus und der Unabhängigkeit des Landes 1991 mit absoluter Mehrheit ohne Koalitionspartner regieren kann.

Der jungen Partei gelang ein schwindelerregender Erfolg. „Diener des Volkes“ ist der Titel einer populären Fernsehserie, in der Selenski im letzten Jahr die Rolle eines Präsidenten übernahm.

Als zweitstärkste Partei zog die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit rund 11,5 Prozent der Stimmen ein. Dahinter verbirgt sich die russlandfreundliche Partei von Wiktor Medwedtschuk. Der Oligarch gilt als Intimus des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der auch Patenonkel eines seiner Kinder ist. Vor den Wahlen wurde er von den staatlichen russischen Fernsehsendern auffallend hofiert.

Bereits einstellig folgt die Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Die „Europäische Solidarität“ erhielt rund 8 Prozent. Danach landete die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit der „Vaterlandspartei“ und rund 7 Prozent auf Platz vier.

Die Fünfprozenthürde nahm auch Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk. Seine Partei Holos (Stimme) vereinigt in sich viele Antikorruptionskämpfer und aktive Vertreter der Zivilgesellschaft. Holos erhielt etwas mehr als 6 Prozent. Selenski hatte Holos bereits als Koalitionspartner ins Visier genommen, hätte die DdV im Parlament keine absolute Mehrheit erhalten.

Fast unbemerkt blieb, dass die Ukrainer keine rechtsradikale und faschistische Partei ins Parlament schickten. Noch bis vor Kurzem stigmatisierte der Kreml die Ukraine wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu rechtsradikalen Kräften.

Demokratische Wahlen – aus russischer Sicht gefährlicher als Nato-Wunderwaffen

Selenski war angetreten, keine Bewerber aufzustellen, die mit dem politischen System schon vorher engere Bekanntschaft geschlossen hatten. Das könnte funktionieren. Die absolute Mehrheit garantiert einen Austausch von mindestens der Hälfte aller Parlamentarier. In Kiew spricht man schon überschwänglich von einer Wahlrevolution.

Kräfte wie Julia Timoschenko, die sich bereits wieder Hoffnungen auf ein Amt machte, müssen bei der Postenverteilung nicht mehr bedacht werden. Es gilt als ein vorsichtiges Zeichen, dass die korrupte Politikerkaste allmählich abtritt, die das Land die letzten 20 Jahre im Würgegriff hielt. Doch es gibt auch Experten, die Befürchtungen äußern, Selenski müsse bei der Zusammenstellung seiner Regierung durchaus auf Politiker aus der alten Clique zurückgreifen.

Wenn das Ergebnis der DdV seit der Unabhängigkeit der Ukraine auch das bislang beste für eine Partei gewesen sein mag, so hatte der ehemalige Komödiant bei der Wahlbeteiligung weniger Erfolg. Nur knapp 50 Prozent des Wahlvolks nahm teil – weniger als beim letzten Wahlgang vor fünf Jahren. Damals waren die Erfahrungen der russischen Besatzung noch ganz frisch. Auch die in die Urlaubszeit vorgezogenen Wahlen werden diesmal als Grund für die niedrige Beteiligung genannt.

So klar der Sieg ausfiel, so unklar bleibt unterdessen, in welche Richtung sich das Land bewegen wird. An der Westorientierung, der angepeilten Mitgliedschaft in der EU und Nato, hat Selenski bislang keine Zweifel aufkommen lassen. Auch bei Krim-Annexion und Krieg im Donbass vertritt der 41-jährige Neuling bislang keine Positionen, die von der alten Linie Kiews abweichen.

Dennoch gibt es viele Stimmen, die dem jungen Präsidenten diese Haltung auf Dauer nicht zutrauen. Oft wird ihm unterstellt, er würde gegenüber Moskau bald einknicken. Vielleicht ist dies jedoch auch nur eine besondere Melange aus Kreml-Propaganda und ewigen Nörglern in der Heimat.

Bislang hat Selenski aber noch kein Programm. Schon gar kein ausgefeiltes. Als Ziel formulierte er lediglich, offene Fragen im Krieg mit Russland zu klären und ukrainische Gefangene zurückzuholen.

Mit der von Herbst auf den Sommer vorgezogenen Parlamentswahl konnte er jedenfalls einen Coup landen. Aus dem Stand organisierte er eine beeindruckende Hausmacht. Allerdings müssen die Ränge dieser Macht von der jungen Partei noch mit zuverlässigen Mitstreitern besetzt werden. Verwandte, Freunde und die größere Sippe zu bedenken, das wäre ein Rückfall in alte Gepflogenheiten.

Moskaus Reaktion ist zunächst verhalten. Kiew hat nicht nur demokratisch einen neuen Präsidenten gewählt, sondern auch das Parlament ausgewechselt. Derartige Übungen stellen sich aus russischer Sicht gefährlicher dar als Nato-Wunderwaffen. Moskaus korrupte Elite empfängt Signale, die inzwischen auch innerhalb Russlands auf Nachahmer stoßen.

Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der russischen Duma, Konstantin Kossatschow, begrüßte unterdessen den „Reifungsprozess“ des Ukrainers. „Politische Kindheit und Jugend für Präsident Selenski sind somit beendet“, schrieb er herablassend auf Facebook.

Nachdenklich dürfte den Kreml auch die zögerliche Nachfrage in der Ostukraine nach russischen Pässen stimmen. Bislang folgten dem Angebot Putins nur knapp 8.000 Ukrainer.

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